TS 49: Der Weltraumarzt
vorläufiges Ziel war. Vorsichtig stieg er in der Dunkelheit die Treppen empor, die hinauf in das Turmhaus der Nachrichtenvermittlungszentrale führten. Von hier aus hatten die Eindringlinge nach der Landung ihre Ausrottungsoperation begonnen, denn mit Hilfe der Lämpchen am Vermittlungspult konnten sie feststellen, in welchen Wohnungen Sichtsprechgeräte in Betrieb waren. Sie brauchten nur zu beobachten, von wo Anrufe kamen, dann konnten sie sofort ein Henkerkommando in die betreffende Wohnung entsenden. Allerdings mußten sie damit rechnen, daß selbst nach dieser ersten Nacht noch irgendwo vereinzelte Bewohner, die von den schrecklichen Ereignissen nichts bemerkt hatten, irgendwo in der Stadt zurückgeblieben waren. Falls nun ein Sterbender in den letzten Stunden seines Lebens das Bedürfnis haben sollte, die tröstende Stimme eines Mitmenschen zu hören, dann würde ein Aufpasser am Vermittlungsautomaten den Anruf registrieren und alles weitere veranlassen.
Calhoun behielt recht mit seiner Schlußfolgerung. Der Aufpasser war tatsächlich auf seinem Posten, denn aus einem der Räume drang Licht. Mit der Sprühpistole im Anschlag bewegte Calhoun sich lautlos auf die Tür zu, während Murgatroyd vertrauensvoll hinterdrein tappte.
Vor der angelehnten Tür des Raumes machte Calhoun seine seltsame Waffe bereit. Dann trat er ein. Vor dem Kontrollpult döste ein Mann vor sich hin. Er hob den Kopf und gähnte geräuschvoll, als er die Schritte hinter sich hörte. Dann drehte er sich um.
Calhoun besprühte sein Gesicht mit einem Wirbel molekularer Geschosse aus verdampftem Dexträthyl. Dieses Anästheticum war vor etwa zweihundert Jahren aus dem Äthylchlorid entwickelt worden, und in der Zwischenzeit hatte man für das Indikationsgebiet dieses Narkosemittels noch nichts besseres gefunden. Eine seiner wesentlichen Eigenschaften war, daß es in Dampfform schon bei der schwächsten Konzentration einen unwiderstehlichen reflektorischen Impuls auslöste. Kein Mensch war fähig, einen tiefen Atemzug zu unterdrücken, sobald er Dexträthyl zu riechen bekam. Diese Tatsache begünstigte die Wirkung der zweiten wesentlichen Eigenschaft dieses Stoffes. Wie seine Muttersubstanz, das alte Äthylchlorid, war es das am raschesten und sichersten wirksame unter allen bekannten Inhalationsnarkosemitteln.
Der Mann am Kontrollpult sah Calhoun. Gleichzeitig fingen seine Nasenschleimhäute den eigenartigen Duft des Dexträthyl auf. Er schnappte nach Luft und stürzte eine Sekunde später bewußtlos zu Boden.
Calhoun wartete geduldig, bis sich die Dexträthylschwaden verzogen hatten. Die Dämpfe dieser Substanz waren bei Zimmertemperatur leichter als Luft – eine Eigenschaft, die unter allen flüchtigen organischen Verbindungen einzigartig war und nicht nur in der gegenwärtigen, nicht eben alltäglichen Situation ihre besonderen Vorteile hatte. Als die letzten Schwaden durch die Entlüftungsschlitze an der Decke abgezogen waren, nahm Calhoun seinen mit Polysulfat geladenen Injektor zur Hand und beugte sich über den bewußtlosen Mann.
Dann verstaute er den leeren Injektor wieder an seinem Platz und verließ den Raum. Murgatroyd marschierte hinter ihm drein.
Draußen sagte Calhoun:
„Ganz unter uns Kollegen, vielleicht war das nicht ganz korrekt, was ich da eben getan habe. Aber vergiß nicht, daß wir es immerhin mit einer Seuche, also mit einer erheblichen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit zu tun haben. Manchmal sind wir ja gezwungen, unsere üblichen und routinemäßigen Maßnahmen mit einer mehr oder weniger großen Dosis Psychologie wirkungsvoll zu ergänzen. Nach meiner festen Überzeugung haben wir hier einen derartigen Fall vor uns. Der Mann, den wir soeben behandelt haben, dürfte eher vermißt werden, als die meisten seiner Kumpane. Es muß auffallen, wenn er nicht auf seinem Posten ist.“
„Tschie?“ fragte Murgatroyd eifrig.
Calhoun schüttelte den Kopf.
„Nein, der ist nicht hin. Das wird er uns nicht antun. Im übrigen muß ich schon sagen, daß deine Ausdrucksweise sich nicht mit der Würde einer Medizinalperson vereinbaren läßt!“
Calhoun hatte in der Vermittlungszentrale nichts berührt, um keine Spuren seines Besuches zu hinterlassen. Draußen auf der Straße war es inzwischen stockdunkel geworden. Am Himmel glänzten die Sterne, aber in den leeren, unbeleuchteten Straßen herrschte schwarze Finsternis. Man hatte das Gefühl einer ungreifbaren, unbestimmten Drohung, die in der Luft zu liegen schien.
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