TS 88: Das Ende der Zeitreise
Anschein hatte, denn wer nicht augenblicklich verlieren wollte, mußte die Zeit- oder Verzögerungszüge so vorausberechnen, daß keine der für diesen Zweck ausgewählten Figuren vor ihrer Aktion vom Gegner genommen werden konnte. Wer auf diese Weise siegte, galt als Genie der Malampur’schen Wahrscheinlichkeitsanalyse.
Für Hagar war mit dem Augenblick der Entdeckung des Schachspiels alles andere vergessen. Wie bei jedem fanatischen Videoschachspieler bereitete ihm die Ausübung dieser Kunst höchsten geistigen Genuß. Alle seine Sinne konzentrierten sich nur auf das Spiel, als er die Hände auf die Kontaktmuster legte und mit dem ersten Zug eröffnete.
Der gewählte Springer entstand als plastisches, energetisches Abbild in dem gewählten Feld. Hagar hielt es für die natürlichste Sache der Welt, als eine der gegnerischen Figuren – ebenfalls ein Springer – den Platz wechselte. Noch war es natürlich zu früh für einen Zeitzug. Erst mußte das Denken des Gegners an Hand seiner Züge analysiert werden. Hagar merkte bald, daß er es mit einem gleichwertigen Gegner zu tun hatte. Der erste Zeitzug, den er wagte,, wurde durch einen Gegenzeitzug kompensiert. Hagars Absicht war also vorausberechnet worden. Er fieberte vor Spannung, aber sein Geist arbeitete so klar wie nie zuvor. Der andere sollte ihn kennenlernen!
Vorerst jedoch verlor Hagar durch den nächsten Zeitzug einen Turm, konnte aber den Verlust ausgleichen, indem er sich selbst überwand und den Gegner mit einem völlig unlogisch angesetzten weiteren Zeitzug bluffte. Er gewann einen Springer. Als er gleich darauf noch einen Turm gewann, fühlte er sich bereits als Sieger. Doch zu früh! Die nächsten beiden Zeitzüge des Gegners bedrohten seinen König. Er entging dem Schachmatt nur, weil er einen der Züge vorausgesehen und kompensiert hatte. Der Kampf wurde noch härter. Die nächsten beiden Stunden brachten keinem Spieler Verluste, aber auch keinen Gewinn. Nach zwei weiteren Stunden stand das Spiel Remis.
Hagar wich in ungläubigem Staunen zurück und starrte auf das Spielfeld. Das war ein Gegner! Es war lange her, daß jemand ihm gegenüber ein Remis erreicht hatte. Hagar war es gewohnt, bei jedem Spiel Sieger zu bleiben. Ironisch lächelte er, als die Figuren wieder in den Ausgangsstellungen entstanden. Es gab also ein Rückspiel. Diesmal wollte er es seinem Gegner zeigen!
Doch dazu kam es nicht.
Als Hagar angriffslustig auf das Schachbrett zustapfte, verschwand dieses plötzlich samt der Wand. Er schloß die Augen, geblendet von hellem Licht. Blinzelnd stolperte er einige Schritte zurück. Als seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, erblickten sie einen hohen Saal, und darin …
„Nein!“ ächzte Hagar. „Das ist doch …!“
In der Mitte des Saales stand ein Mensch. Er war nackt, hatte den Kopf zurückgebogen und die Hand schützend über die Augen gelegt, als schaute er in einen strahlenden Sonnenhimmel. Die Gestalt wirkte völlig natürlich, und erst, als sie sich nicht regte, begann Hagar zu begreifen, daß er es nicht mit einem lebenden Menschen, sondern mit einer Statue zu tun hatte. Etwas erleichtert durchschritt er die Öffnung und betrat den Saal. Fieberhaft arbeitete sein Gehirn. Er suchte nach einer Antwort auf die Frage, weshalb sich die vorher so undurchdringlich scheinende Wand so unvermittelt geöffnet hatte. Hagar war an streng logisches Denken gewöhnt. Deshalb kam er bald zu dem Schluß, daß dieses Phänomen eng mit dem Schachspiel verknüpft sein mußte. Und wenn das der Fall war …
Hagars Knie wurden angesichts der Erkenntnis weich. Er lehnte sich an die Wand. Vierdimensionales Video-Schach war ein Spiel, zu dessen Verständnis die Beherrschung der retrograden Kombinatorik und der Malampur-Analyse erforderlich waren. Nirgends in der Galaxis gab es außer dem menschlichen ein Gehirn, dem derartig abstrakte Denkprozesse faßbar waren. Die Erbauer der Schirmkuppel, des Turmes und der Halle mußten also humanoide Wesen sein, Wesen, die großen Wert darauf legten, daß nur Menschen, und zwar wiederum nur solche, die den Durchschnitt weit überragten, die Halle finden konnten. Das Video-Schach war demnach eine Testaufgabe.
An dieser Erkenntnis richtete Hagar sich wieder auf. Er hatte den Test bestanden. Bedeutend ruhiger trat er näher an die Statue heran und betrachtete sie von allen Seiten. Sie entlockte ihm ein mißbilligendes Stirnrunzeln. Wenn die Statue lebensgroß sein sollte – und verschiedene
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