TS 90: Die dritte Chance
einem Wächter war nichts zu sehen. Vielleicht hatte Harrison geblufft. Wozu brauchte man auch einen Wächter, wenn man den Gefangenen in einer sicheren Zelle wußte?
Der Himmel war bewölkt und für sein Vorhaben günstig. Es war dunkel, und Fabian konnte kaum die Hand vor seinen Augen sehen. Er war im Grunde keine wagemutige und tapfere Natur und noch nie in seinem Leben hatte er sich in einer auch nur ähnlichen Situation befunden. Aber der Gedanke an die Unerbittlichkeit seiner Gegner gab ihm Mut. Nicht nur das, er dachte daran, daß es für die Welt keine Rettung mehr gab, wenn er hier sinnlos starb.
Er packte den Eisenstab mit beiden Händen und drückte ihn langsam und vorsichtig nach außen. Er gab nach, lockerte sich aber nicht genug. Fabian verstärkte den Druck und stemmte sich mit den Füßen gegen den Holzboden. Die Dielen knarrten verräterisch. Dann, plötzlich, wäre er fast aus dem Fenster gestürzt. In seinen Händen hielt er das gesamte Gitter.
Behutsam jonglierte er das Gitter ins Zimmer herein und stellte es gegen die Wand.
Fabian nahm das Küchenmesser und schob es hinter den Gürtel. Dann steckte er die Reste des Abendessens in die Taschen und ging wieder zum Fenster. Der Baum war ziemlich nahe, aber jetzt, wo er an ihm in den Hof hinabklettern wollte, schien er Meilen entfernt zu sein. Ob die dünnen Äste ihn trugen?
Nur ein Versuch würde ihm Antwort auf die Frage geben können. Er stieg aufs Fensterbrett und setzte sich darauf. Die Beine hingen in den dunklen Hof hinab. Drei oder vier Meter, schätzte er, würden es bis unten sein. Wenn wenigstens die Veranda direkt unter dem Fenster läge, das würde einen ganzen Meter ersparen. Immerhin, wenn er stürzte, würde er sich nicht gerade alle Knochen brechen, aber jemand würde den Lärm hören, den er dabei verursachte. Dann also schon lieber klettern.
Er griff nach dem nächsten Ast und zog ihn zu sich heran.
Zwei Minuten später hatte er es geschafft. Er rutschte an dem Ast entlang und erreichte eine stärkere Gabel. Das Fenster lag bereits über ihm. Der Boden konnte nicht mehr weit entfernt sein. Schon wollte er sich hinabgleiten lassen, als er ein Geräusch hörte.
Es waren langsame, schleichende Schritte. Sie kamen näher und hielten genau unter ihm an. Undeutlich nur erkannte Fabian im Dunkel der Nacht einen Schatten und etwas Helles. Ein Gesicht. Es sah zu ihm hoch. Aber dann begriff Fabian, daß das Gesicht nur zu seinem Fenster hochsah.
Nur …?
Das Gitter fehlte! Man konnte das deutlich sehen, auch in der Dunkelheit. Jetzt, wo seine Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, sah er besser. Und der Mann dort unten, wahrscheinlich doch ein Wächter, weilte schon viel länger draußen in der dunklen Nacht. Er mußte das fehlende Gitter bemerken, wenn er nicht gerade blind war.
Fabian hockte zitternd in seiner Astgabel, direkt unter sich jetzt den Mann. Seine Gedanken überschlugen sich. Sollte seine Flucht aus einem dummen Zufall heraus scheitern? Nur weil der Kerl gerade hier vorbeikam und nach oben schaute?
„Bin ich denn so besoffen?“ murmelte der Wächter verdutzt und sah immer noch zum Fenster hoch. „Wo ist denn nun der Karzer?“
Fabian holte tief Luft – und ließ los.
Er landete mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Schultern des Unvorbereiteten und riß ihn zu Boden. Fabian war kein Kämpfer, aber das Glück war auf seiner Seite. Sein unbekannter Gegner stürzte nach vorn und schlug mit dem Kopf genau gegen den Baumstamm. Ohne einen Laut von sich zu geben, sackte er in sich zusammen.
Fabian erhob sich und lauschte.
Alles blieb still. Vielleicht hatte Harrison nur diesen einen Wächter aufgestellt. Dann beugte er sich hinab. Der Mann war bewußtlos, das erkannte er sofort an den flachen Atemzügen. Aber er konnte ihn nicht hier liegenlassen. Wenn die Ablösung kam, war seine Flucht entdeckt, und jede Minute Vorsprung war kostbar. So würde man den verschwundenen Wächter erst suchen, und bis man die Wahrheit entdeckte, konnte eine weitere Stunde vergehen. Eine Stunde, in der Fabian in Sicherheit sein konnte.
Vielleicht.
Der Kerl war schwer wie ein Sack. Fabian nahm seine Beine und schleifte ihn einfach hinter sich her. Morgen früh spielte es keine Rolle mehr, wenn man die Spuren fand. Dann war er längst über alle Berge.
Er atmete auf, als er nach hundert Metern an einem flachen Schuppen vorbei war und freies Feld erreichte. Für die Strecke hatte er mehr als fünf Minuten benötigt. Wenn er
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