TS 94: Sehnsucht nach der grünen Erde
Unsinn; er hatte sagen wollen, so um die 1900, dabei war es erst 1796!
Und dann kam ihm das wirklich Erschreckende zu Bewußtsein, und er versuchte, sich im Bett aufzurichten. Das Jahr 1900 war einmal gewesen, sagte ihm sein Gedächtnis, und Edison hatte 1931 den Tod gefunden … Und ein Mann namens Napoleon Bonaparte war hundertzehn Jahre davor gestorben – 1821.
Damals hatte ihn beinahe der Wahnsinn befallen.
Verrückt oder normal – nur die Tatsache, daß er nicht sprechen konnte, hatte ihn vor dem Irrenhaus bewahrt; sie gab ihm Gelegenheit, über alles nachzudenken – Gelegenheit zu erkennen, daß seine einzige Chance darin bestand, Amnesie vorzutäuschen. Schließlich steckt man dich nicht wegen Gedächtnisschwund ins Irrenhaus. Man sagt dir, wer du bist, läßt dich zurückkehren zu dem, was man dein früheres Leben nennt. Man läßt dich die Fäden wiederaufnehmen, sie ineinander verstricken – und du suchst dich immerfort zu erinnern.
Dies hatte er vor drei Jahren getan. Nun, gleich morgen, würde er zu einem Psychiater gehen und ihm sagen, er sei – Napoleon!
*
Die Sonne stand näher am Horizont. Droben zog brummend ein Riesenvogel von einem Flugzeug vorbei, und er sah empor und begann zu lachen. Es war ein echtes Lachen, denn es entsprang der Vorstellung, Napoleon Bonaparte flöge in solch einem Flugzeug, und der überwältigenden Widersinnigkeit dieses Gedankens.
Dann kam ihm zu Bewußtsein, daß er, soweit er sich erinnern konnte, noch nie geflogen war. Vielleicht George Vine; irgendwann im Laufe der siebenundzwanzig Jahre, die George Vine gelebt hatte, mußte er es wohl. Aber bedeutete dies, daß er in einem geflogen war? Diese Frage gehörte zur ganz großen Frage.
Er stand auf und setzte seinen Weg fort. Es war beinahe fünf Uhr; Charlie Doerr würde jetzt gleich sein Büro verlassen. Vielleicht sollte er lieber Charlie anrufen und sich vergewissern, daß dieser heute abend zu Hause sei.
Er hielt auf die nächste Bar zu und tätigte seinen Anruf; er erreichte Charlie gerade noch zur rechten Zeit. Er sagte: „Hier George. Bist du heute abend zu Hause?“
„Sicher, George. Ich wollte ursprünglich zum Pokern, aber dann sagte ich ab, als ich erfuhr, daß du vorbeikämest.“
„Als du erfuhrst … Oh, Chandler hat mit dir gesprochen?“
„Ja. Hör mal, ich wußte ja nicht, daß du anrufen würdest, sonst hätte ich Marge Bescheid gesagt … Was ist, kommst du zum Abendessen? Ihr wird es sicher recht sein; ich rufe sie an, wenn du willst.“
Er sagte: „Nein, danke, Charlie. Ich habe schon eine Verabredung. Und wegen der Pokerrunde; das fällt nicht aus. Ich kann ungefähr um sieben bei dir sein, und wir brauchen ja nicht den ganzen Abend lang zu plaudern, oder? Eine Stunde wird genügen, denke ich. Vor acht wärest du sowieso nicht gegangen.“
Charlie sagte: „Laß das nur meine Sorge sein; ich habe ohnedies keine große Lust zum Pokern, und du hast dich lange genug in deinen vier Wänden verkrochen. Ich erwarte dich also um sieben, ja!“
Von der Telefonzelle schritt er hinüber zur Theke und bestellte ein Bier. Er wunderte sich, warum er die Einladung abgelehnt hatte; wahrscheinlich deshalb, weil er, unbewußt, noch ein paar Stunden für sich haben wollte, ehe er mit jemandem sprach, und sei es nur mit Charlie und Marge.
Er trank sein Bier langsam, damit er nicht gleich ein zweites zu bestellen brauchte; er mußte heute abend nüchtern bleiben, sehr nüchtern. Er hatte noch Zeit, sich das Ganze zu überlegen; er hatte sich ein Schlupfloch freigehalten – egal, wie klein. Er konnte morgen noch immer zu Chandler gehen und ihm sagen, er habe sich anders entschieden.
Über den Rand seines Glases hinweg starrte er auf sein Spiegelbild hinter der Bar. Klein, rotblond, sommersprossig, gedrungen. Was den kleinen und gedrungenen Teil betraf, so paßte er ganz gut; aber der Rest! Nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit Napoleon.
Langsam trank er noch ein Bier, und dann war es halb sechs.
Er verließ das Lokal und schlenderte weiter, diesmal in Richtung Innenstadt. Er schritt an der Blade vorbei und sah empor zum Fenster im dritten Stockwerk, aus dem er gestarrt hatte, ehe er in Chandlers Büro gerufen worden war. Er fragte sich, ob er jemals wieder an diesem Fenster sitzen und in einen sonnigen Nachmittag hinausblicken würde.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Er dachte an Clare. Hatte er Lust, sie heute abend zu sehen?
Nun, das nicht gerade, um ehrlich zu sein. Sollte
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