Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
Vom Netzwerk:
ich. «Unverkäuflich.» Ich hatte die Jacke bei Humana entdeckt und für fünf Euro gekauft, und es war wirklich meine Lieblingsjacke. Irgend so ein China-Teil, auf der Brust ein weißes Drachenmuster, das wahnsinnig billig aussah. Aber auch wahnsinnig toll. Im Grunde die ideale Jacke für Asis. Und darum mochte ich sie auch so, da sah man nicht gleich auf den ersten Blick, dass ich das genaue Gegenteil eines Asis war: reich, feige, wehrlos.
    «Wo gibt’s denn die? Hey, halt doch mal an! Wo läufst du hin?» Er brüllte über den ganzen Hof und fand das offenbar komisch. Es klang, als hätte man ihm außer Alkohol noch was gegeben. Ich bog in die Weidengasse ein.
    «Bist du sitzengeblieben?»
    «Was schreist du denn so?»
    «Bist du sitzengeblieben?»
    «Nee.»
    «Du guckst so.»
    «Wie gucke ich?»
    «Als ob du sitzengeblieben wärst.»
    Was wollte der denn von mir? Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich es gut fand, dass Tatjana ihn nicht eingeladen hatte.
    «Aber lauter Fünfen», sagte er.
    «Keine Ahnung.»
    «Wie, keine Ahnung? Wenn ich dich nerv, mach Meldung.»
    Ich sollte melden, dass er mich nervte? Und dann kriegte ich eins in die Fresse oder was?
    «Weiß ich nicht.»
    «Du weißt nicht, ob ich dich nerv?»
    «Ob ich lauter Fünfen hab.»
    «Im Ernst?»
    «Ich hab noch nicht reingeguckt.»
    «In dein Zeugnis?»
    «Nein.»
    «Du hast in dein Zeugnis nicht reingeguckt?»
    «Nein.»
    «Echt? Du hast dein Zeugnis gekriegt und nicht reingeguckt? Wie cool ist das denn.» Er machte große Armbewegungen beim Sprechen, während er neben mir herging, und zu meiner Überraschung war er nicht größer als ich. Nur stämmiger.
    «Und du verkaufst die Jacke also nicht?»
    «Nein.»
    «Und was machst du jetzt?»
    «Nach Hause.»
    «Und danach?»
    «Nichts.»
    «Und dann?»
    «Geht dich einen Scheiß an.» Jetzt, wo ich begriffen hatte, dass er mich nicht abziehen wollte, wurde ich sofort mutiger. Das ist leider immer so. Solange die Leute unfreundlich sind, kann ich vor Aufregung kaum laufen. Aber wenn sie auch nur ein bisschen freundlich werden, fang ich immer gleich an, sie zu beleidigen.
    Ein paar hundert Meter ging Tschick schweigend neben mir her, dann zupfte er mich am Ärmel, wiederholte, dass das eine übertrieben geile Jacke wäre, und schlug sich seitwärts in die Büsche. Ich sah ihn über die Wiese in Richtung der Hochhäuser stapfen, die Plastiktüte, die seine Schultasche war, über die rechte Schulter gehängt.

13
    Nach einer Weile blieb ich stehen und sackte auf den Bordstein. Ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Ich wollte nicht, dass es ein Tag wie alle anderen war. Es war ein besonderer Tag. Ein besonders beschissener Tag. Ich brauchte eine Ewigkeit.
    Als ich die Tür aufschloss, war niemand da. Ein Zettel lag auf dem Tisch: Essen im Kühlschrank. Ich packte meine Sachen aus, guckte kurz in mein Zeugnis, legte die Beyoncé-CD ein und kroch unter meine Bettdecke. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob die Musik mich tröstete oder noch mehr deprimierte. Ich glaube, sie deprimierte mich noch mehr.
    Ein paar Stunden später ging ich zurück zur Schule, um mein Fahrrad zu holen. Im Ernst, ich hatte mein Fahrrad vergessen. Mein Schulweg war zwei Kilometer lang, und manchmal ging ich zu Fuß, wenn mir danach war, aber an diesem Tag war ich nicht zu Fuß gegangen. Ich war so in Gedanken gewesen, als Tschick mich angequatscht hatte, dass ich einfach mein Fahrrad auf- und wieder zugeschlossen hatte und losmarschiert war. Es war wirklich ein Elend.
    Zum dritten Mal an diesem Tag führte mich der Weg vorbei an dem großen Sandhügel und an dem Spielplatz, wo das Brachland beginnt. Da setzte ich mich auf den Indianerturm. Ein riesiger Holzturm, den sie mit einem halben Fort zusammen da hingebaut haben, damit kleine Kinder Cowboy und Indianer spielen könnten, wenn es irgendwo kleine Kinder gäbe. Aber ich habe noch nie ein Kind da gesehen. Auch keine Jugendlichen oder Erwachsenen. Nicht mal Junkies übernachten da. Nur ich sitz manchmal oben auf dem Turm, wo mich keiner sehen kann, wenn’s mir scheiße geht. Im Osten sieht man die Hochhäuser von Hellersdorf, im Norden läuft hinter den Sträuchern die Weidengasse, und etwas dahinter ist noch eine Kleingartenkolonie. Aber rund um den Spielplatz ist nichts, ein riesiges Brachland, das ursprünglich mal Bauland war. Da sollten einmal Einfamilienhäuser entstehen, wie man auf einem großen, verwitterten Schild noch lesen kann, das umgekippt neben der

Weitere Kostenlose Bücher