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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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gelacht, während ich meine rechte und linke Gesichtshälfte, meine Hände und meine nackten Füße der Reihe nach auf den Kopierer legte. Das machte sie jetzt leider nicht mehr, mir in den Haaren wuscheln.
    Sie stieg nur mit Shorts und einem knallengen Pullover aus dem Auto, und es war völlig klar, was für eine Sorte Geschäftsreise das werden sollte. Der Pullover war so eng, dass man praktisch alle Details sehen konnte. Okay fand ich immerhin, dass mein Vater gar nicht erst versuchte, irgendein großes Theater abzuziehen. Hatte er eigentlich auch nicht nötig. Zwischen meinen Eltern war so weit alles klar. Meine Mutter wusste, was mein Vater machte. Und mein Vater wusste auch, was meine Mutter machte. Und wenn sie allein waren, schrien sie sich an.
    Was ich lange nicht begriff, war, warum sie sich nicht scheiden ließen. Eine Weile hatte ich mir eingebildet, ich wäre der Grund dafür. Oder das Geld. Aber irgendwann kam ich zu dem Schluss, dass sie sich gern anschrien. Dass sie gerne unglücklich waren. Das hatte ich irgendwo in einer Zeitschrift gelesen: dass es Leute gibt, die gerne unglücklich sind. Also die glücklich sind, wenn sie unglücklich sind. Wobei ich zugeben muss, dass ich das nicht ganz kapiert hab. Irgendwas daran leuchtete mir sofort ein. Aber irgendwas leuchtete mir auch nicht ein.
    Und eine bessere Erklärung ist mir für meine Eltern noch nicht eingefallen. Ich hab wirklich viel darüber nachgedacht, ich hab am Ende richtig Kopfschmerzen bekommen vom Nachdenken. Das war wie 3-D-Bilder angucken, wo man auf so ein Muster schielen muss, und plötzlich sieht man irgendwas Unsichtbares. Andere Leute konnten das immer besser als ich, bei mir geht das fast gar nicht, und immer gerade in dem Moment, wo ich das Unsichtbare sehe, was meistens eine Blume ist oder ein Reh oder so was, verschwindet es sofort wieder, und ich kriege Kopfschmerzen. Und genau so ist das beim Nachdenken über meine Eltern auch, und ich kriege Kopfschmerzen davon. Und deshalb denke ich nicht mehr darüber nach.
    Während mein Vater seine Koffer packte, stand ich unten mit Mona und machte Konversation. Sie heißt nämlich Mona, die Assistentin, und das Erste, was sie zu mir sagte, war, wie warm es geworden wäre und wie viel wärmer es die nächsten Tage noch werden sollte. Das Übliche. Aber als sie erfuhr, dass ich meine Ferien nun allein verbringen musste, guckte sie mich gleich so traurig an, dass mir fast die Tränen kamen über mein eigenes grausames Schicksal. Verlassen von den Eltern und Gott und der Welt! Ich dachte darüber nach, sie zu bitten, mir noch einmal durch die Haare zu wuscheln wie damals am Kopierer. Aber ich traute mich nicht. Stattdessen starrte ich die ganze Zeit haarscharf an diesem knallengen Pullover vorbei in die Landschaft und hörte Mona darüber reden, was für ein verantwortungsvoller Mensch mein Vater wäre und so weiter. Es hatte nicht nur Vorteile, älter zu werden.
    Ich war noch tief in meine Landschaftsbetrachtung versunken, als mein Vater mit dem Koffer die Treppen runterkam.
    «Bedauer ihn bloß nicht», sagte er. Er gab mir nochmal die gleichen Ratschläge, die er mir schon vorher gegeben hatte, erzählte zum dritten Mal, wo er die zweihundert Euro hingepackt hatte, und dann legte er seinen Arm um Monas Taille und ging mit ihr zum Auto. Das hätte er sich allerdings sparen können. Den Arm um ihre Taille legen, meine ich. Ich fand es gut, dass sie keine riesige Heimlichtuerei veranstalteten. Aber solange sie auf unserem Grundstück waren, hätte er nicht den Arm um ihre Taille legen müssen. Meine Meinung. Ich knallte die Tür zu, schloss die Augen und stand eine Minute lang völlig still. Dann warf ich mich auf die Fliesen und schluchzte.
    «Mona!», rief ich. Und es schnürte mir die Kehle zu. «Ich muss dir etwas gestehen!» Im leeren Windfang hatte meine Stimme einen beängstigenden Hall, und Mona, die es schon geahnt zu haben schien, dass ich ihr etwas gestehen musste, hielt sich entsetzt die Hände vor den Mund. Ihr Pullover hob und senkte sich aufgeregt.
    «O Gott, o Gott!», rief sie.
    «Du darfst das nicht falsch verstehen», schluchzte ich, «ich würde doch niemals freiwillig für die CIA arbeiten! Aber sie haben uns in der Hand – verstehst du?» Und natürlich verstand sie das. Weinend brach sie neben mir zusammen. «Aber was sollen wir denn machen?», rief sie verzweifelt.
    «Wir können nichts machen!», antwortete ich. «Wir können nur ihr Spiel mitspielen. Das

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