Tschick (German Edition)
mit zwei Händen vor mich hin und fing ganz langsam an, sie zu zerreißen. Als der Riss an Beyoncés Stirn war, hörte ich auf und heulte. Was dann war, weiß ich nicht mehr. Ich weiß noch, dass ich irgendwann aus dem Haus rannte und in den Wald rein und den Hügel rauf, und dann fing ich an zu joggen. Ich joggte nicht wirklich, ich hatte keine Sportsachen an, aber ich überholte ungefähr zwanzig Jogger pro Minute. Ich rannte einfach durch den Wald und schrie, und alle anderen, die durch den Wald rannten, gingen mir wahnsinnig auf die Nerven, weil sie mich hörten , und als mir dann auch noch einer entgegenkam, der mit Skistöcken spazieren ging, fehlte wirklich nur ein Hauch, und ich hätte ihm seine Scheißstöcke in den Arsch gekickt.
Zu Hause stand ich stundenlang unter der Dusche. Danach fühlte ich mich etwas besser, etwa so wie ein Schiffbrüchiger, der wochenlang auf dem Atlantik treibt, und dann kommt ein Kreuzfahrtschiff vorbei und jemand wirft eine Dose Red Bull runter und das Schiff fährt weiter – so ungefähr.
Unten ging die Haustür.
«Was liegt das da draußen rum?», brüllte mein Vater.
Ich versuchte, ihn zu ignorieren, aber es war schwierig.
«Soll das da liegen bleiben?»
Er meinte das Werkzeug. Also ging ich wieder runter, nachdem ich in den Spiegel geguckt hatte, ob meine Augen noch rot waren, und als ich unten ankam, stand ein Taxifahrer vor der Tür und kratzte sich im Schritt.
«Geh rauf und sag deiner Mutter Bescheid», sagte mein Vater. «Hast du dich überhaupt schon verabschiedet? Du hast nicht mal dran gedacht, oder? Los, geh! Geh!»
Er schubste mich die Treppe rauf. Ich war sauer. Aber mein Vater hatte leider recht. Ich hatte das mit meiner Mutter komplett vergessen. Die letzten Tage hatte ich es immer noch gewusst, aber in der Aufregung heute hatte ich es vergessen. Meine Mutter musste wieder für vier Wochen in die Klinik.
Sie saß im Schlafzimmer im Pelzmantel vor dem Spiegel, und sie hatte sich nochmal ordentlich aufgetankt. In der Klinik gab es ja nichts. Ich half ihr hoch und trug ihren Koffer runter. Mein Vater trug den Koffer zum Taxi, und kaum war das Taxi weg, telefonierte er ihr gleich hinterher, als ob er sich wahnsinnig Sorgen um sie machen würde. Aber das war nicht der Fall, wie sich bald rausstellte. Meine Mutter war noch keine halbe Stunde weg, da kam mein Vater auf mein Zimmer und hatte dieses Dackelgesicht, und dieses Dackelgesicht bedeutet: Ich bin dein Vater. Und ich muss mit dir über was Wichtiges sprechen. Was nicht nur dir unangenehm ist, sondern auch mir.
So hatte er mich vor ein paar Jahren angeguckt, als er meinte, mit mir über Sex sprechen zu müssen. So hatte er mich angeguckt, als er wegen einer Art Katzenhaarallergie nicht nur unsere Katze, sondern auch meine beiden Kaninchen im Garten und die Schildkröte irgendwo versenkte. Und so guckte er auch jetzt.
«Ich erfahre gerade, dass ich einen Geschäftstermin habe», sagte er, als würde ihn das selbst am meisten verwirren. Tiefe Dackelfurchen auf der Stirn. Er redete ein bisschen rum, aber die Sache war ganz einfach. Die Sache war, dass er mich vierzehn Tage allein lassen wollte.
Ich machte ein Gesicht, das ausdrücken sollte, dass ich ungeheuer schwer darüber nachdenken musste, ob ich diese Hiobsbotschaft verkraften konnte. Konnte ich das verkraften? Vierzehn Tage allein in dieser feindlichen Umwelt aus Swimmingpool, Klimaanlage, Pizzadienst und Videobeamer? Ja, doch, ich nickte betrübt, ich könnte es versuchen, ja, ich würde es wahrscheinlich überleben.
Das Dackelgesicht entspannte sich nur kurz. Ich hatte es wohl etwas übertrieben.
«Und dass du keinen Scheiß machst! Glaub nicht, dass du Scheiß machen kannst. Ich lass dir zweihundert Euro hier, die liegen schon unten in der Schale, und wenn irgendwas ist, rufst du sofort an.»
«Bei deinem Geschäftstermin.»
«Ja, bei meinem Geschäftstermin .» Er sah mich wütend an.
Am Nachmittag machte er wieder scheinbesorgte Anrufe bei meiner Mutter, und noch während er mit ihr telefonierte, kam seine Assistentin, um ihn abzuholen. Ich ging sofort runter, um zu gucken, ob es immer noch die gleiche war. Diese Assistentin ist nämlich extrem gut aussehend, und sie ist nur ein paar Jahre älter als ich, also neunzehn vielleicht. Und sie lacht immer. Sie lacht wahnsinnig viel. Ich hab sie vor zwei Jahren zum ersten Mal getroffen, bei einem Besuch im Büro von meinem Vater, und da hatte sie mir sofort in meinen Haaren gewuschelt und
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