Tschick (German Edition)
Straße liegt. Weiße Würfel mit rotem Dach, kreisrunde Bäume und daneben die Aufschrift: Hier entstehen 96 Einfamilienhäuser. Weiter unten ist von hochrentablen Anlageobjekten die Rede, und ganz unten steht irgendwo auch Immobilien Klingenberg .
Aber eines Tages wurden auf der Wiese drei ausgestorbene Insekten, ein Frosch und ein seltener Grashalm entdeckt, und seitdem prozessieren die Naturschützer gegen die Baufirmen und die Baufirmen gegen die Naturschützer, und das Land liegt brach. Die Prozesse laufen seit zehn Jahren, und wenn man meinem Vater glauben darf, werden sie auch noch zehn Jahre laufen, weil gegen diese Ökofaschisten kein Kraut gewachsen ist. Ökofaschisten ist das Wort von meinem Vater. Mittlerweile lässt er die Silbe Öko auch weg, weil diese Prozesse ihn ruiniert haben. Ein Viertel des Baulandes hat nämlich ihm gehört, und mit diesem Land hat er sich in die Scheiße prozessiert. Wenn bei uns zu Hause am Mittagstisch mal ein Fremder zugehört hätte, der hätte kein Wort verstanden. Jahrelang redete mein Vater immer nur von Scheiße, Wichsern und Faschisten. Wie viel Verlust er bei der Sache gemacht hatte und wie sich das auf uns auswirken würde, war mir lange nicht klar. Ich dachte immer, mein Vater prozessiert sich aus der Sache auch wieder raus, und vielleicht hat er das auch selbst gedacht, am Anfang. Aber dann hat er das Handtuch geworfen und seine Anteile verkauft. Da hat er nochmal Riesenverluste gemacht, aber er war der Meinung, dass die Verluste noch riesiger geworden wären, wenn er weiterprozessiert hätte, und deshalb hat er alles weit unter Wert an die Wichser verkauft. Wobei das jetzt das Wort für seine Kollegen ist. Die Wichser, die weiterprozessiert haben. Das war vor anderthalb Jahren. Und seit einem Jahr ist klar: dass das der Anfang vom Ende war. Um die Verluste aus der Weidengasse aufzufangen, hat mein Vater mit Aktien spekuliert, und jetzt sind wir pleite, der Urlaub ist gestrichen, und das Haus, das uns gehört, gehört uns wahrscheinlich schon lange nicht mehr. Sagt mein Vater. Und das alles wegen drei Raupen und einem Grashalm.
Das Einzige, was von der ganzen Aktion übrig geblieben ist, ist der Spielplatz, der gleich am Anfang gebaut wurde, um die Kinderfreundlichkeit von Marzahn auszudrücken. Leider vergeblich.
Und okay, ich gebe zu, es gibt noch einen anderen Grund, warum ich von diesem Spielplatz angefangen hab. Weil man in Wirklichkeit auch zwei weiße Mietshäuser sehen kann von da, von oben vom Turm. Die Mietshäuser stehen hinter der Kleingartenkolonie, irgendwo hinter den Bäumen, und in einem davon wohnt Tatjana. Ich wusste zwar nie, wo ganz genau, aber es gibt ein kleines Fenster oben links, wo in der Dämmerung immer ein grünes Licht angeht, und aus irgendwelchen Gründen hab ich mir eingebildet, dass das Tatjanas Zimmer ist. Und deshalb sitze ich manchmal auf dem Indianerturm und warte auf das grüne Licht. Wenn ich vom Fußballtraining komm oder vom Nachmittagsunterricht. Dann schau ich zwischen den Brettern durch und schnitze mit meinem Haustürschlüssel Buchstaben ins Holz, und wenn das Licht aufleuchtet, wird mir immer ganz warm ums Herz, und wenn es nicht leuchtet, ist das jedes Mal eine Riesenenttäuschung.
Aber an diesem Tag war es noch zu früh, und ich wartete nicht, sondern ging den Weg zur Schule. Da stand mein Fahrrad einsam und allein in dem kilometerlangen Fahrradständer. Am Fahnenmast hing schlapp die Fahne, und in dem ganzen Gebäude war niemand mehr. Nur der Hausmeister zog weiter hinten zwei Müllcontainer zur Straße. Ein Cabrio mit Türken-Hiphop gondelte vorbei. Und so würde es jetzt für den Rest des Sommers bleiben. Sechs Wochen keine Schule. Sechs Wochen keine Tatjana. Ich sah mich schon an einem Strick vom Indianerturm baumeln.
Wieder zu Hause, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Ich versuchte das Licht an meinem Fahrrad zu reparieren, das schon lange kaputt war, aber ich hatte die Ersatzteile nicht. Ich legte Survivor ein und fing an, die Möbel in meinem Zimmer umzustellen. Ich stellte das Bett nach vorn und den Schreibtisch nach hinten. Dann ging ich wieder runter und versuchte nochmal, das Licht zusammenzuflicken, aber es war aussichtslos, und dann schmiss ich das Werkzeug in die Blumen und ging wieder hoch und warf mich auf mein Bett und schrie. Das war der erste Tag der Ferien, und ich war praktisch schon am Durchdrehen. Irgendwann holte ich die Beyoncé-Zeichnung raus. Ich schaute sie lange an, hielt sie
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