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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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zeichnete fünfmal so große Quadrate drauf. Das ist eine Methode, die ich aus einem Buch kenne. Alte Meister oder so. Damit kann man aus einem kleinen Bild ein ziemlich großes Bild machen. Man überträgt einfach Quadrat für Quadrat. Man könnte das natürlich auch auf einen Kopierer legen. Aber ich wollte, dass es gezeichnet ist. Wahrscheinlich wollte ich, dass man sieht, dass ich mir Mühe gemacht hab. Weil, wenn man das mit der Mühe sieht, kann man sich den Rest auch denken. Wochenlang arbeitete ich jeden Tag an dieser Zeichnung. Ich arbeitete wirklich hart. Nur mit Bleistift, und ich wurde immer aufgedrehter, weil ich beim Zeichnen an nichts anderes mehr denken konnte als an Tatjana und ihren Geburtstag und ihren supersympathischen Onkel, mit dem ich am Kamin unfassbar geistreiche Gespräche führte.
    Und wenn ich auch nicht viel kann, zeichnen kann ich. Ungefähr so wie Hochsprung. Wenn Beyoncézeichnen und Hochsprung die wichtigsten Disziplinen auf der Welt wären, wäre ich ganz weit vorn. Im Ernst. Leider interessiert sich kein Mensch für Hochsprung, und bei der Zeichnerei kamen mir auch so langsam Zweifel. Nach vier Wochen harter Arbeit sah Beyoncé fast wie ein Foto aus, eine riesengroße Bleistiftbeyoncé mit Tatjanas Augen, und ich wäre wahrscheinlich der glücklichste Mensch im Universum gewesen, wenn ich jetzt noch eine Einladung auf Tatjanas Party bekommen hätte. Aber ich bekam keine.
    Es war der letzte Schultag, und ich war etwas nervös, weil dieser ganze Partygedanke ja immer im Raum stand, alle redeten unaufhörlich über Werder bei Potsdam, aber es hatte noch keine Einladungen gegeben, oder ich hatte keine gesehen. Und man wusste ja gar nicht, wo genau das sein sollte, so klein ist Werder ja auch wieder nicht. Ich hatte den Stadtplan längst im Kopf. Und deshalb dachte ich, dass Tatjana das am letzten Schultag irgendwie bekanntgeben würde. War aber nicht so.
    Stattdessen sah ich in der Federtasche von Arndt, der zwei Reihen vor mir saß, ein kleines grünes Kärtchen. Das war in Mathe. Ich sah, wie Arndt das grüne Kärtchen Kallenbach zeigte, und Kallenbach runzelte die Stirn, und ich konnte sehen, dass in der Mitte vom grünen Kärtchen ein kleiner Straßenplan war. Und dann bemerkte ich, dass alle diese grünen Kärtchen hatten. Fast alle. Kallenbach hatte auch keins, so blöd wie er guckte, allerdings guckte er ja immer blöd. Er war ja auch blöd. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum er nicht eingeladen worden war. Kallenbach beugte sich tief über die Schrift, er war kurzsichtig und setzte aus irgendeinem Grund nie die Brille auf, und Arndt nahm ihm das Ding wieder weg und steckte es zurück in seine Federtasche. Wie sich später rausstellte, waren Kallenbach und ich nicht die Einzigen ohne Einladung. Der Nazi hatte auch keine, Tschichatschow nicht, und dann noch ein oder zwei. Logisch. Die größten Langweiler und Asis waren nicht eingeladen, Russen, Nazis und Idioten. Und ich musste nicht lange überlegen, was ich in Tatjanas Augen wahrscheinlich war. Weil, ich war ja weder Russe noch Nazi.
    Aber sonst war praktisch die ganze Klasse eingeladen, und dann noch die halbe Parallelklasse und garantiert noch hundert Leute, und ich war nicht eingeladen.
    Bis zur letzten Schulstunde und bis nach der Zeugnisverleihung hoffte ich immer noch. Ich hoffte, dass alles ein Irrtum war, dass Tatjana nach dem Klingeln auf mich zukommen und sagen würde: «Psycho, Mann, dich hab ich ja ganz vergessen! Hier ist das grüne Kärtchen! Ich hoffe, du hast Zeit, es würde mich todunglücklich machen, wenn ausgerechnet du nicht kommen könntest – und du hast hoffentlich an mein Geschenk gedacht? Ja, auf dich ist Verlass! Also, bis dann, ich freu mich wahnsinnig, dass du kommst! Fast hätte ich dich vergessen, mein Gott!» Dann klingelte es, und alle gingen nach Hause. Ich packte lange und umständlich meine Sachen zusammen, um Tatjana die letzte Gelegenheit zu geben, ihren Irrtum zu bemerken.
    Auf den Gängen standen nur noch die Dicken und die Intelligenten und unterhielten sich über ihre Zeugnisse und irgendeinen Stuss, und am Ausgang – zwanzig Meter hinter dem Ausgang – haute jemand auf meine Schulter und sagte: «Übertrieben geile Jacke.» Es war Tschick. Beim Grinsen sah man zwei große Zahnreihen, und die Schlitzaugen waren noch schmaler als sonst. «Kauf ich dir ab. Die Jacke. Bleib mal stehen.»
    Ich blieb nicht stehen, aber ich hörte, wie er mir nachlief.
    «Lieblingsjacke», sagte

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