Tschick (German Edition)
Wichtigste ist, die Fassade aufrechtzuerhalten. Du musst dir immer klarmachen, dass ich jetzt ein Achtklässler bin und wie ein Achtklässler aussehe und dass wir einfach normal unser Leben weiterleben, mindestens noch ein, zwei Jahre, als ob wir uns überhaupt nicht kennen!»
«O Gott, o Gott!», rief Mona und umklammerte schluchzend meinen Hals. «Wie konnte ich nur an dir zweifeln?»
«O Gott, o Gott!», rief ich, und ich presste meine Stirn auf die kalten Fliesen und krümmte mich auf dem Boden und heulte noch ungefähr eine halbe Stunde lang. Danach ging es mir besser.
14
Jedenfalls so lange, bis die Vietnamesin kam. Die kommt normalerweise dreimal die Woche. Die Vietnamesin ist schon ziemlich alt, sechzig, würde ich schätzen, und mit dem Reden hat sie’s nicht so. Ohne ein Wort rauschte sie plötzlich an mir vorbei und dann gleich rein in die Küche und mit dem Staubsauger wieder raus. Ich hab mir das eine Weile angesehen, schließlich bin ich zu ihr hin und hab gesagt, dass sie die nächsten zwei Wochen nicht mehr arbeiten muss. Ich wollte einfach allein sein. Ich hab ihr erklärt, dass meine Eltern so lange weg sind und dass es reicht, wenn sie Dienstag in vierzehn Tagen einmal kommt und das Haus auf Vordermann bringt. Aber es war ziemlich schwierig, ihr das begreiflich zu machen. Ich dachte, der würde jetzt vor Freude sofort der Staubsauger aus der Hand fallen, aber das war nicht so. Sie hat mir nämlich erstens nicht geglaubt. Also hab ich ihr im Haus die Liste gezeigt und was mein Vater noch für mich eingekauft hatte und den rotumkringelten Mittwoch im Kalender, wo er wiederkommen wollte, und weil sie mir dann immer noch nicht geglaubt hat, hab ich ihr sogar die zweihundert Euro gezeigt, die er dagelassen hatte. Und erst da ist mir eingefallen, warum sie sich so hartnäckig an ihren Staubsauger geklammert hat. Weil sie nämlich gedacht hat, dass sie auch kein Geld kriegt, wenn sie nicht arbeitet, und ich musste ihr erklären, dass sie ihr Geld natürlich trotzdem kriegt. Wahnsinnig peinlich. Merkt ja keiner, hab ich gesagt. Aber verstanden hat sie das nur mit großer Mühe, sie kann kein Deutsch, und irgendwann ist sie dann tatsächlich gegangen, nachdem wir beide im Küchenkalender mit unseren Zeigefingern nochmal ausgiebig auf den übernächsten Dienstag getippt und uns dabei tief in die Augen geschaut und zugenickt hatten, und danach war ich völlig fertig. Ich weiß nie, wie ich mit diesen Leuten reden soll. Wir hatten auch mal einen Inder für den Garten, der ist aus Kostengründen jetzt gestrichen, aber da war es genau das Gleiche. Peinlich. Ich will diese Leute immer ganz normal behandeln, aber sie benehmen sich wie Angestellte, die den Dreck für einen wegmachen, und genau das sind sie ja auch, aber ich bin doch erst vierzehn. Meine Eltern haben damit kein Problem. Und wenn meine Eltern dabei sind, ist es auch für mich kein Problem. Aber allein mit der Vietnamesin in einem Raum fühle ich mich wie Hitler. Ich will ihr immer sofort das Staubtuch aus der Hand reißen und selber putzen.
Ich hab sie noch rausbegleitet, und am liebsten hätte ich ihr auch noch irgendwas geschenkt, aber ich wusste nicht, was, und deshalb hab ich ihr einfach nur hinterhergewinkt wie ein Blöder und war wahnsinnig froh, als ich endlich allein war. Ich sammelte das Werkzeug ein, das immer noch überall rumlag, und dann stand ich in der warmen Abendluft und atmete tief durch.
Schräg gegenüber grillten die Dyckerhoffs. Der älteste Sohn winkte mir mit der Grillzange zu, und weil er ein Riesenarschloch ist wie alle unsere Nachbarn, guckte ich schnell zur anderen Seite, und da kam quietschend ein Fahrrad die Straße runtergerollt. Wobei runtergerollt übertrieben ist. Und Fahrrad ist auch übertrieben. Es war der Rahmen von einem alten Damenfahrrad, vorn und hinten unterschiedliche Reifen, in der Mitte ein zerfetzter Ledersattel. Einziges Zusatzteil war eine schlackernde Handbremse, die am Kabel senkrecht nach unten hing wie eine umgedrehte Antenne. Hinten ein Platten. Und obenauf Tschichatschow. Das war nach meinem Vater jetzt so ungefähr die letzte Person, der ich begegnen wollte. Wobei außer Tatjana jetzt im Grunde jeder die letzte Person war, der ich begegnen wollte. Aber der Ausdruck auf dem Mongolengesicht machte gleich klar, dass das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.
«Kawock!», sagte Tschick und steuerte strahlend bei uns auf den Bürgersteig. «Denkst du, was passiert: Fahr ich dahinten – macht’s
Weitere Kostenlose Bücher