Tschick (German Edition)
wir?»
«Mein Bruder. Hat den auch entdeckt. Die Karre steht da auf der Straße und ist praktisch Schrott. Kann man leihen. Der Besitzer merkt das gar nicht.»
«Und das da?» Ich zeigte auf den Kabelsalat.
«Kann man wieder reinmachen.»
«Du spinnst doch. Und die Fingerabdrücke?»
«Was denn für Fingerabdrücke? Sitzt du deshalb die ganze Zeit so komisch da?» Er rüttelte an meinen Armen, die ich krampfhaft vor der Brust verschränkt hielt. «Mach dir nicht ins Hemd. Das ist Fernsehscheiß mit Fingerabdrücken. Hier – kannst du anfassen. Kannst du alles anfassen. Los, wir fahren mal ’ne Runde.»
«Ohne mich.» Ich sah ihn an und sagte erst mal nichts mehr. Er hatte wirklich den Arsch offen.
«Hast du nicht gestern gesagt, du willst mal was erleben?»
«Damit hab ich nicht Knast gemeint.»
«Knast! Du bist doch nicht mal strafmündig.»
«Mach, was du willst. Aber ohne mich.» Ich wusste, ehrlich gesagt, nicht mal, was strafmündig heißt. Also, so ungefähr schon. Aber nicht genau.
«Strafmündig heißt: Dir kann nichts passieren. Wenn ich du wär, würd ich nochmal ’ne Bank überfallen, sagt mein Bruder immer. Bis du fünfzehn bist. Mein Bruder ist dreißig. In Russland prügeln sie dir sieben Sorten Scheiße aus dem Hirn – aber hier! Außerdem interessiert die Karre wirklich niemanden. Nicht mal den Besitzer.»
«No way.»
«Einmal um den Block.»
«Nein.»
Tschick löste die Handbremse, und ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, warum ich nicht ausstieg. Ich bin ja sonst eher feige. Aber gerade deshalb wollte ich wahrscheinlich mal nicht feige sein. Er trat mit dem linken Fuß auf das Pedal ganz links, und der Lada rollte lautlos rückwärts die Schräge hinunter. Tschick trat das mittlere Pedal, und der Wagen blieb stehen. Ein Griff in den Kabelsalat, der Motor startete, und ich schloss meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, glitten wir den Ketschendorfer Weg runter und rechts in die Rotraudstraße.
«Du hast nicht geblinkt», sagte ich kläglich, die Arme immer noch an die Brust gepresst. Ich war vor Aufregung fast tot. Dann suchte ich nach dem Sicherheitsgurt.
«Du musst keine Angst haben. Ich fahr wie ’n Weltmeister.»
«Blink doch mal wie ’n Weltmeister.»
«Ich hab noch nie geblinkt.»
«Bitte.»
«Wozu? Die Leute sehen doch, wo ich hinfahr. Und es ist sowieso keiner da.»
Das stimmte, die ganze Straße war leer. Und es stimmte noch ungefähr eine Minute lang. Dann war Tschick zweimal abgebogen, und plötzlich waren wir auf der Allee der Kosmonauten. Die Allee der Kosmonauten ist vierspurig. Ich kriegte endgültig Panik.
«Okay, okay. Und jetzt zurück. Bitte.»
«Mika Häkkinen ist ein Scheiß gegen mich.»
«Das hast du schon gesagt.»
«Stimmt’s nicht?»
«Nein.»
«Im Ernst. Fahr ich nicht gut?», fragte Tschick.
«Ganz toll» , sagte ich, und in Erinnerung daran, dass das die Standardantwort meiner Mutter auf die Standardfrage meines Vaters war, sagte ich noch: «Ganz toll, Liebling.»
«Dreh jetzt nicht durch.»
Tschick fuhr nicht gerade wie ein Weltmeister, er fuhr aber auch nicht katastrophal. Nicht viel besser oder schlechter als mein Vater. Und er steuerte tatsächlich wieder unser Viertel an.
«Und könntest du dich mal an irgendwelche Verkehrsregeln halten? Das da ist ein durchgezogener Strich.»
«Bist du schwul?»
«Was?»
«Ich hab gefragt, ob du schwul bist.»
«Hast du sie noch alle?»
«Du hast Liebling gesagt.»
«Ich hab … was? Man nennt es Ironie.»
«Also, bist du schwul?»
«Wegen der Ironie?»
«Und weil du dich nicht für Mädchen interessierst.» Er sah mir tief in die Augen.
«Guck auf die Straße!», rief ich, und ich muss zugeben, ich wurde langsam hysterisch. Er fuhr einfach, ohne hinzugucken. Machte mein Vater auch manchmal, aber mein Vater war auch mein Vater und hatte einen Führerschein.
«Alle in der Klasse sind voll in Tatjana. Aber voll.»
«In wen ?»
«In Tatjana. Wir haben ein Mädchen in der Klasse, das Tatjana heißt. Dir nie aufgefallen? Tatjana Superstar. Du bist der Einzige, der sie nicht mit dem Arsch anguckt. Aber du guckst auch sonst keine mit dem Arsch an. Also, bist du schwul? Ich frag nur so.»
Ich dachte fast, ich sterbe.
«Find ich nicht schlimm», sagte Tschick. «Ich hab einen Onkel in Moskau, der läuft den ganzen Tag in einer Lederhose mit hinten Arsch offen rum. Ist aber völlig okay sonst, mein Onkel. Arbeitet für die Regierung. Und er kann ja nichts dafür, dass er schwul ist. Ich
Weitere Kostenlose Bücher