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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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meine Täubchen», sagte er zum Schluss. «Alles sinnlos. Auch die Liebe. Carpe diem.»
    Dann zog er ein kleines braunes Glasfläschen aus der Hosentasche und überreichte es uns, als wäre es das Kostbarste auf der Welt. Er machte ein großes Gewese drum, wollte aber nicht sagen, was drin war. Das Etikett war vergilbt, und das Fläschchen sah aus, als hätte er es mindestens seit dem Kursker Bogen in seiner Tasche mit sich rumgetragen. Wir sollten es nur aufmachen, wenn wir in Not wären, schärfte er uns ein, wenn die Lage so ernst wäre, dass wir nicht mehr weiterwüssten, und vorher nicht, und dann würde es uns helfen. Er sagte retten . Es würde uns das Leben retten.
    Damit gingen wir zum Auto zurück. Ich hielt das Fläschchen gegens Licht, aber es war nichts zu erkennen. Irgendeine zähe Flüssigkeit, aber auch was Festes mit dabei.
    Im Auto versuchte Tschick, die Schatten auf dem Etikett zu entziffern, und als er das Fläschchen schließlich aufmachte, fing es an, wie wahnsinnig nach faulen Eiern zu stinken, und er warf es aus dem Fenster.

37
    Die Straße verlor sich kurz hinter dem verlassenen Dorf, und wir mussten querfeldein. Links lag irgendwo die weggefräste Landschaft, rechts sackte eine riesige, längliche Kiesböschung nach unten, und dazwischen lief eine vierzig bis fünfzig Meter breite Piste, ein schmales Plateau. Als ich mich einmal umdrehte, sah ich in großer Entfernung hinter uns das Dorf, sah das zweistöckige Haus, in dem Schütze Fricke wohnte, und sah – dass vor dem Haus ein Polizeiauto hielt. Ganz winzig, kaum noch zu erkennen, aber doch eindeutig: die Polizei. Sie schienen gerade zu wenden. Ich machte Tschick darauf aufmerksam, und wir nagelten mit fast achtzig Stundenkilometern durchs Gelände. Die Piste wurde immer schmaler, die Abhänge rückten näher an uns ran, und schräg vor uns sahen wir irgendwo die Autobahn, die da unten einen Schlenker an der Kiesböschung vorbeimachte. Ich erkannte eine Parkbucht mit zwei Tischchen, einen Mülleimer und eine Notrufsäule, und man hätte da wahrscheinlich einfach auf die Autobahn fahren können – wenn irgendwo ein Weg nach unten geführt hätte. Aber vom Plateau führte kein Weg hinunter. Das Scheißplateau war da einfach zu Ende. Ich sah verzweifelt durch die Heckscheibe, und Tschick steuerte auf die Böschung zu, einen 45-Grad-Steilhang aus Kies und Geröll.
    «Runter oder was?», rief er, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er tippte noch auf die Bremse, dann rauschten wir schon über die Kante – und das war’s.
    Möglicherweise hätten wir es auch geschafft, wenn wir gerade runtergefahren wären, aber Tschick fuhr seitlich auf die Böschung, und da schmierte der Lada sofort ab. Er kam ins Rutschen, blieb hängen und überschlug sich. Drei- vier-, fünf-, sechsmal – ich weiß es nicht –, überschlug sich und blieb dann auf dem Dach liegen. Ich kriegte kaum was mit. Was ich wieder mitkriegte, war: Die Beifahrertür war aufgesprungen, und ich versuchte rauszukriechen. Was mir nicht gelang. Ich brauchte ungefähr eine halbe Stunde, um zu merken, dass ich nicht gelähmt war, sondern im Sicherheitsgurt festhing. Dann war ich endlich draußen und sah in dieser Reihenfolge: einen grünen Autobahnmülleimer direkt vor mir, einen umgedrehten Lada, unter dessen Motorhaube es dampfte und zischte, und Tschick, der auf allen vieren durchs Gelände kroch. Er rappelte sich auf, taumelte ein paar Schritte, rief «Los!» und fing an zu rennen.
    Aber ich rannte nicht. Wohin denn? Hinter uns das Plateau mit der Polizei vermutlich, vor uns die Autobahn, und hinter der Autobahn Felder bis zum Horizont. Nicht gerade das ideale Gelände, um vor einer Polizeistreife davonzulaufen. Rund um den Autobahnparkplatz noch ein paar Bäume und Gebüsch, hinter den Feldern irgendwo ein großer weißer Kasten, wahrscheinlich eine Fabrik.
    «Was ist los?», rief Tschick. «Bist du verletzt?»
    War ich verletzt? Nein, schien nicht so. Ein paar blaue Flecken vielleicht.
    «Stimmt was mit dir nicht?», fragte er und kam zurück.
    Ich wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, warum ich es für lächerlich hielt, zu Fuß vor der Polizei davonzulaufen, da gab es ein Geräusch von brechenden Zweigen und Laubrascheln. Ein Flusspferd brach vor uns durch die Büsche. Irgendwo in Deutschland, direkt an der Autobahn, in der völligen Einöde, brach ein Flusspferd durchs Gebüsch und rannte auf uns zu. Es hatte einen blauen Hosenanzug an, eine blonde, kräuselige

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