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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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sumpfig, Tschick kroch im ersten Gang durch die weichen Schlaglöcher, die Strommasten immer neben uns. Ich schwitzte. Vier Kilometer. Fünf Kilometer. Das Terrain hob sich ein wenig. Die Reihe der Strommasten endete, vom letzten hingen die Kabel runter wie frischgewaschenes Haar, zehn Meter dahinter war die Welt zu Ende.
    Und das musste man gesehen haben: Die Landschaft hörte einfach auf. Wir stiegen aus und stellten uns auf die letzten Grasbüschel. Vor unseren Füßen war die Erde senkrecht weggefräst, mindestens dreißig, vierzig Meter tief, und unten lag eine Mondlandschaft. Weißgraue Erde, Krater, so groß, dass man Einfamilienhäuser dadrin hätte bauen können. Ein ganzes Stück links von uns begann eine Brücke über den Abgrund. Wobei, Brücke ist wahrscheinlich das falsche Wort. Es war eher so ein Gestell aus Holz und Eisen, wie ein riesiges Baustellengerüst, schnurgerade bis zum anderen Ufer. Vielleicht zwei Kilometer, vielleicht mehr. Die Entfernung war schwer zu schätzen. Was drüben lag, war auch nicht zu erkennen, vielleicht Sträucher und Bäume. Hinter uns der große Sumpf, vor uns das große Nichts, und wenn man genau hinhörte, hörte man auch genau überhaupt nichts. Kein Grillenzirpen, kein Gräserrascheln, kein Wind, keine Fliege, nichts. Wir rätselten ein Weile, was das sein sollte, dann machten wir uns zu Fuß auf, um das Gerüst zu besichtigen. Es war breiter, als es aus der Entfernung ausgesehen hatte. Etwa drei Meter und mit dicken Holzbohlen obendrauf. Einen anderen Weg am Abgrund vorbei schien es nicht zu geben, und weil wir auch nicht zurückfahren wollten, holte Tschick schließlich den Lada. Er rollte ein paar Meter auf das Gestell – oder die Brücke oder den Damm oder was auch immer – und sagte: «Geht doch.»
    Aber ganz geheuer war mir das nicht. Ich stieg wieder ein, und langsamer als mit Schrittempo fuhren wir über die Holzbohlen. Das Geräusch, das die Bohlen machten, war so hohl und unheimlich, dass ich schließlich wieder ausstieg, um dem Auto voranzugehen. Ich hielt Ausschau nach kaputten Planken, trat mit dem Fuß auf verdächtige Stellen und schaute dazwischen dreißig Meter in die Tiefe. Tschick rollte im Abstand von ein paar Wagenlängen hinter mir her. Wenn uns jemand entgegengekommen wäre, hätten wir alt ausgesehen. Andererseits war es auch nicht gerade eine Straße mit Durchgangsverkehr.
    Als wir so weit gekommen waren, dass wir die Kante, von der wir gestartet waren, kaum noch und das entgegengesetzte Ufer noch nicht wirklich sehen konnten, machten wir eine Pause. Tschick holte Cola aus dem Auto, und wir setzten uns auf den Rand der Holzbohlen oder versuchten es zumindest. Das Holz war so glühend heiß, dass man erst mal eine Weile Schatten auf eine Stelle werfen musste, bevor man sich setzen konnte. Dann starrten wir in die Kraterlandschaft, und als ich lange genug in diese Kraterlandschaft gestarrt hatte, dachte ich an Berlin. Ich hatte plötzlich Schwierigkeiten, mir vorzustellen, dass ich dort einmal gelebt hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich da zur Schule gegangen war, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich es einmal wieder tun würde.

36
    Auf der anderen Seite dann karge Sträucher und Gräser und so eine Art Dorf. Eine zerbröselte Straße wand sich zwischen verfallenen Häusern. Die Fenster hatten größtenteils keine Scheiben, die Dächer waren abgedeckt. Auf den Straßen nirgends Schilder, keine Autos, keine Zigarettenautomaten, nichts. Vor den Gärten waren die Zäune abmontiert vor langer Zeit, Unkraut wucherte aus jeder Ritze.
    Wir gingen in ein verlassenes Bauernhaus und durchsuchten die Räume. Verschimmelte Holzregale lehnten an einer Wand. Auf einem Küchentisch eine leere Konservendose und ein Teller, am Boden eine Zeitung von 1995 mit einer Meldung vom Tagebau. Als wir sicher waren, dass in dem ganzen Ort kein Mensch mehr war, durchsuchten wir auch noch zwei andere Häuser, fanden aber nichts Interessantes. Alte Kleiderbügel, kaputte Gummistiefel, ein paar Tische und Stühle. Ich hatte ja mindestens irgendwo eine Leiche erwartet, aber in die ganz dunklen Keller trauten wir uns auch nicht.
    Wir fuhren weiter durch den Ort. An einer zweistöckigen Ruine waren die Fenster mit Brettern vernagelt, und auf die Bretter hatte jemand mit weißer Farbe Zeichen und Zahlen gemalt. Auch auf dem Weg, den wir fuhren, waren links und rechts Zeichen und Zahlen auf Steine und Zaunpfähle gemalt, und in der Mitte lag plötzlich

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