Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
Vom Netzwerk:
ein riesiger Bretterhaufen. Außen rum zog sich eine Wagenspur, und Tschick hielt vorsichtig im ersten Gang darauf zu, als es einen ungeheuren Schlag gab. Es knirschte. Wir guckten uns an. Der Lada stand still, und dann gab es den nächsten Schlag, als ob jemand von außen gegen die Karosserie hämmerte. Oder mit Steinen warf. Oder schoss. Tschick drehte leicht den Kopf, und da merkte ich, dass die Scheibe hinter uns aussah wie ein Spinnennetz.
    Sofort sprang ich aus dem Auto. Ich weiß nicht, warum, aber ich warf mich hinterm Auto ins Gras, und an die nächsten Sekunden erinnere ich mich nicht wirklich. Ich meine, ich hätte gewinkt. Und was ich auch noch weiß – weil Tschick es mir hinterher erzählt hat –, ist, dass er den Rückwärtsgang einlegte und mich anbrüllte, ich soll wieder einsteigen. Aber ich war hinter dem Auto entlanggekrochen und winkte wie blöd mit den Armen über die Kühlerhaube. Ich spähte zu den Ruinen gegenüber, zu den kahlen Fenstern, und dann sah ich, was ich zu sehen erwartet hatte: In einer Fensteröffnung stand jemand mit dem Gewehr im Anschlag. Ich sah noch eine Sekunde in die Mündung, dann hob er das Gewehr und setzte es ab. Ein alter Mann.
    Er stand im zweiten Stock des beschrifteten Hauses. Er zitterte, so kam es mir vor, aber nicht, wie ich zitterte. Bei ihm schien es das Alter zu sein. Er schirmte seine Augen mit einer Hand gegen die blendende Sonne ab, während ich wie blöd weiterwinkte.
    «Wo willst du hin? Steig ein, steig ein!», rief Tschick, aber ich war aufgestanden und ging, immer noch winkend und händeschwenkend, auf das Gebäude zu.
    «Wir wollen nichts! Wir haben uns verfahren. Wir fahren sofort zurück!», rief ich.
    Der Alte nickte. Er hielt das Gewehr am Lauf in die Luft und brüllte: «Kein Plan! Keine Karte und kein Plan!»
    Ich blieb auf dem Gelände vor seinem Haus stehen und versuchte mit meiner Miene auszudrücken, wie recht er hatte.
    «Im Feld nie ohne Plan!», rief er. «Kommt rein! Ich habe Limo für euch. Kommt rein.»
    Und logisch war das das Letzte, was ich wollte, da reingehen, aber er beharrte drauf, und es war am Ende keine allzu schwere Entscheidung. Wir standen immer noch in seinem Schussfeld, der Weg um den Bretterhaufen herum war schwierig, und der Alte schien ja auch nicht völlig gestört. Na ja: Ich meine, er redete wie ein normaler Mensch.
    Sein Wohnzimmer – wenn man das so nennen kann – war in nicht wesentlich besserem Zustand als die Zimmer der Häuser, die wir durchsucht hatten. Man sah zwar, dass es bewohnt wurde, aber es war unglaublich düster und dreckig. An einer Wand hingen Unmengen Schwarzweißfotos.
    Wir mussten uns auf ein Sofa setzen, und dann holte der Mann mit feierlicher Miene eine halbvolle Fanta hervor und sagte: «Trinkt. Trinkt aus der Flasche.»
    Er saß uns in einem Sessel gegenüber und kippte selbst irgendeinen Fusel aus einem Marmeladenglas. Das Gewehr lehnte zwischen seinen Knien. Ich hatte erwartet, dass er uns jetzt erst mal zum Lada ausfragen oder wissen wollen würde, wo wir damit hinwollten, aber das kratzte ihn offenbar gar nicht. Als er rausgefunden hatte, dass wir aus Berlin waren, interessierte ihn hauptsächlich, ob Berlin sich wirklich so verändert hätte und ob man da noch unbehelligt über die Straße gehen könnte. Er bezweifelte das nämlich. Und nachdem wir ungefähr zehnmal versichern mussten, dass uns von Mord und Totschlag an unserer Schule nichts bekannt war, fragte er plötzlich: «Habt ihr denn ein Mädel?»
    Ich wollte nein sagen, aber Tschick war schneller.
    «Seine heißt Tatjana, und ich bin voll in Angelina», sagte er, und ich wunderte mich nicht, warum er das sagte. Die Antwort schien den Alten allerdings nicht recht zufriedenzustellen.
    «Weil, ihr seid zwei ganz hübsche Jungs», sagte er.
    «Nee, nee», sagte Tschick.
    «In dem Alter weiß man häufig nicht, wohin der Hase will.»
    «Nee», sagte Tschick und schüttelte den Kopf, und auch ich schüttelte den Kopf, ungefähr wie ein ultimativer Lionel-Messi-Fan, der gefragt wird, ob er nicht doch eher Christiano Ronaldo für den Allergrößten hält.
    «Dann seid ihr also verliebt, ja?»
    Wir sagten wieder ja, und mir wurde etwas mulmig, als ich merkte, wie er auf dem Thema rumritt. Er redete nur noch von Mädeln und von Liebe und dass das Schönste im Leben der Alabasterkörper der Jugend wäre.
    «Glaubt mir», sagte er, «ihr schließt ein Mal die Augen und öffnet sie wieder, und welk hängt das Fleisch in Fetzen. Die

Weitere Kostenlose Bücher