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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Liebe, die Liebe! Carpe diem.»
    Er ging zwei Schritte zur Wand und zeigte auf eins der vielen kleinen Fotos. Tschick guckte mich stirnrunzelnd an, aber ich stand sofort auf, setzte mein Ich-weiß-was-sich-gehört-Lächeln auf und begutachtete das Foto, über dem der runzlige Finger des Alten schwebte. Es war ein Passfoto, auf einer Ecke ein Viertel eines Stempels und ein Viertel Hakenkreuz. Es zeigte einen hübschen jungen Mann in Uniform, der einigermaßen trotzig in die Gegend guckte. Offenbar er selbst. Während ich mir das ansah, wanderte der runzlige Finger ein Bild nach rechts.
    «Und das ist die Else. Das war mein Mädel.»
    Das Foto zeigte ein scharfgeschnittenes Gesicht, von dem ich auf den ersten Blick nicht hätte sagen können, ob es Junge oder Mädchen war. Aber «Else» trug eine andere Uniform als der Soldat oder Hitlerjunge neben ihr. Insofern war es vielleicht wirklich ein Mädchen.
    Er fragte, ob er uns die Geschichte von sich und der Else erzählen sollte, und da er dabei schon wieder das Luftgewehr in die Hand genommen hatte, gedankenverloren allerdings, als wäre es ein Teil seines Körpers oder ein Teil seiner Geschichte, und weil wir ja auch schlecht nein sagen konnten, hörten wir uns das dann an.
    Es war allerdings keine richtige Geschichte. Jedenfalls nicht so eine, wie Leute sie normalerweise erzählen, wenn sie von ihrer großen Liebe erzählen.
    «Ich war Kommunist», sagte er. «Die Else und ich, wir waren Kommunisten. Und zwar Ultrakommunisten. Und auch nicht erst nach 45 wie alle andern, wir waren schon immer Kommunisten. Und da haben wir uns auch kennengelernt, in der Widerstandsgruppe Ernst Röhm. Das glaubt heute keiner mehr, aber das war eine andere Zeit. Und ich konnte mit Waffen wie kein Zweiter. Die Else war das einzige Mädel da, eine ganz Feine, aus bestem Haus, und hat ausgesehen wie ein Junge. Die hat die ganzen verbotenen Schriftsteller übersetzt. Die hat den Juden Shakespeare übersetzt. Die hat den Ravage übersetzt. Sie konnte Englisch wie ein Vogel, das konnten ja nicht viele, und ich hab das auf der Schreibmaschine abgetippt … ja, so war das. Liebe meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Im KZ haben sie die Else dann sofort vergast, und ich bin im Strafbataillon mit meiner Flinte durch den Kursker Bogen gekrochen. Damit konnte ich einem Iwan auf 400 Meter ein Auge ausschießen.»
    «Einem Iwan?», fragte Tschick.
    «Einem Iwan. Einem Scheißrussen», sagte der Alte und dachte nach. Er sah dabei weder Tschick noch mich an, und wir wechselten einen Blick. Tschick wirkte nicht sonderlich beunruhigt, ich war’s eigentlich auch nicht mehr.
    «Ich dachte», sagte ich, «Sie wären Kommunist gewesen.»
    «Ja.»
    «Und – waren die Russen nicht auch so ’ne Art Kommunisten?»
    «Ja.»
    Er dachte wieder nach. «Und ich konnte einem auf 400 Meter ein Auge ausschießen! Horst Fricke, bester Schütze seiner Einheit. Ich hatte mehr Eichenlaub an meiner Brust als ein verdammter Wald. Wie Tontauben hab ich die weggeknallt. Die waren komplett behämmert. Oder die Kommandanten waren behämmert. Die haben die Horden auf uns zugetrieben. Vorne hat Sinning am MG abgeräumt und hinten Schütze Fricke. Fricke allein gegen den Iwan war das manchmal. Und die hatten ja auch Gewehre. Da musst du erst mal drüber nachdenken, wenn du so blöde Fragen stellst. Wenn du denkst, du kommst jetzt mit Moral und dem ganzen Dreck. Die oder ich! Das war die Frage. Jeden Tag Iwans, jugendliches Fleisch, das auf uns zugetaumelt ist. Ein Ozean aus Fleisch. Die hatten ja zu viel davon. Von wegen Lebensraum im Osten. Waren viel zu viele Russen da. Bei denen stand einer von der Tscheka hinter jeder Linie und hat jeden abgeknallt, der nicht rauswollte in unser Sperrfeuer. Denkt man immer, die Nazis waren grausam. Aber im Vergleich zum Russen: Fliegenschiss. Und da haben sie uns ja letztlich mit überrollt. Mit Fleisch. Mit Maschinen hätten sie das nie geschafft. Ein Iwan und noch ein Iwan und noch ein Iwan. Ich hatte zwei Zentimeter Hornhaut auf meinem rechten Zeigefinger. Hier.» Er hielt beide Zeigefinger hoch. Tatsächlich hatte der rechte eine kleine Beule an der Kuppe. Ob die wirklich vom Iwan kam, weiß ich natürlich nicht.
    «Das ist doch alles Schwachsinn», sagte Tschick.
    Merkwürdigerweise reagierte der Mann nicht wirklich auf diesen Einwand. Er redete noch eine Weile weiter, aber was es mit seiner großen Liebe letztlich auf sich hatte, erfuhren wir nicht.
    «Und eins müsst ihr euch merken,

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