Tschick (German Edition)
einen Blick auf die Autobahn warf und wie die da mit zweihundert an uns vorbeirauschten, dann wusste ich, dass das nicht ging.
«Ich muss dir ein Geheimnis verraten», sagte ich. «Ich bin der größte Feigling unter der Sonne. Der größte Langweiler und der größte Feigling, und jetzt können wir zu Fuß weiter. Auf einem Feldweg würd ich’s versuchen, vielleicht. Aber nicht auf der Autobahn.»
«Wie kommst du denn auf Langweiler?», fragte Tschick, und ich fragte ihn, ob er eigentlich wüsste, warum ich überhaupt mit ihm in die Walachei gefahren wäre. Nämlich weil ich der größte Langweiler war, so langweilig, dass ich nicht mal auf eine Party eingeladen wurde, zu der alle eingeladen wurden, und weil ich wenigstens einmal im Leben nicht langweilig sein wollte, und Tschick erklärte, dass ich nicht alle Tassen im Schrank hätte und dass er sich, seit er mich kennen würde, noch nicht eine Sekunde gelangweilt hätte. Dass es im Gegenteil so ungefähr die aufregendste und tollste Woche seines Lebens gewesen wäre, und dann unterhielten wir uns über die tollste und aufregendste Woche unseres Lebens, und es war wirklich kaum auszuhalten, dass es jetzt vorbei sein sollte.
Und dann sah Tschick mich lange an und sagte, ich solle nicht glauben, dass Tatjana mich nicht eingeladen hätte, weil ich langweilig wäre, oder dass sie mich nicht mögen würde deshalb.
«Die Mädchen mögen dich nicht, weil sie Angst vor dir haben. Wenn du meine Meinung wissen willst. Weil du sie wie Luft behandelst und weil du nicht so weichgespült bist wie Langin, dieser Schwachkopf. Aber du bist doch kein Langweiler, du Penner. Und Isa mochte dich ja auch sofort. Weil sie nämlich nicht so doof ist, wie sie aussieht. Und weil sie ein paar Eigenschaften hat, wenn du weißt, was ich meine. Im Gegensatz zu Tatjana, die eine taube Nuss ist.»
Ich sah Tschick an, und ich glaube, mein Mund stand offen.
«Ja, ja, du liebst sie. Und sie sieht ja wirklich superporno aus. Aber im Ernst, im Vergleich zu Isa ist das eine taube Nuss. Und ich kann das beurteilen, im Gegensatz zu dir. Weil, soll ich dir auch noch ein Geheimnis verraten?», fragte Tschick und schluckte und sah aus, als hätte man ihm eine Bleikugel im Hals versenkt, und dann kam fünf Minuten nichts, und er meinte, dass er es beurteilen könnte, weil es ihn nicht interessieren würde. Mädchen. Dann wieder lange nichts und dann: Das hätte er noch niemandem gesagt, und jetzt hätte er es mir gesagt, und ich müsste mir keine Gedanken machen. Von mir wollte er ja nix, er wüsste ja, dass ich in Mädchen und so weiter, aber er wäre nun mal nicht so und er könnte auch nichts dafür.
Und man kann jetzt denken von mir, was man will – aber ich war nicht wahnsinnig überrascht. Ich war wirklich nicht wahnsinnig überrascht. Ich hatte es nicht direkt gewusst, aber ich hatte so eine Ahnung gehabt, im Ernst. Als Tschick schon auf der ersten Fahrt mit dem Lada von seinem Onkel in Moskau angefangen hatte und auch die Sache mit der Drachenjacke und wie er Isa die ganze Zeit behandelt hatte – genau gewusst hatte ich’s natürlich nicht. Aber im Nachhinein kam’s mir vor, als hätte ich so eine Ahnung gehabt.
Tschick war mit dem Kopf auf das Armaturenbrett gesunken. Ich legte eine Hand in seinen Nacken, und dann saßen wir da und hörten «Ballade pour Adeline», und ich dachte einen Moment darüber nach, auch schwul zu werden. Das wäre jetzt wirklich die Lösung aller Probleme gewesen, aber ich schaffte es nicht. Ich mochte Tschick wahnsinnig gern, aber ich mochte Mädchen irgendwie lieber. Und dann legte ich den ersten Gang ein und rollte los. Es war so traurig gewesen, die Nacht über im Krankenhaus zu sitzen und zu denken, alles wäre vorbei, und es war so phantastisch, wieder durch die Windschutzscheibe vom Lada zu gucken und das Steuer in der Hand zu haben. Ich fuhr eine Proberunde auf dem Parkplatz. Die meisten Probleme machte immer noch das Schalten, aber wenn Tschick das übernahm und ich nur auf Kommando die Kupplung treten musste, ging es, und dann rollten wir mit Schwung auf die Autobahn. Rollten auf die Standspur und blieben stehen.
«Ganz ruhig», sagte Tschick, «ruhig. Wir machen das gleich nochmal.»
Wir warteten die nächste größere Lücke im Verkehr ab, und mit größere Lücke meine ich: kein Auto bis zum Horizont, und dann startete ich wieder und beschleunigte.
«Kupplung!», rief Tschick, und ich trat aufs Pedal, und er legte den zweiten Gang ein.
Ich war
Weitere Kostenlose Bücher