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Tsunamis - Entstehung, Geschichte, Prävention

Tsunamis - Entstehung, Geschichte, Prävention

Titel: Tsunamis - Entstehung, Geschichte, Prävention Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Maria Koldau
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unangekündigt entsetzlicher Schrecken über den ganzen Umfang des Erdkreises, wie uns weder die Sagen noch die Tatsachenberichte vergangener Zeiten beschreiben. Denn kurz nach Tagesanbruch, nachdem eine dichte Folge heftig funkelnder Blitze vorausgegangen war, wurde die zitternde Festigkeit allen Gleichgewichts der Erde erschüttert, und das Meer, rückwärts getrieben, verzog sich mit hinwälzenden Wogen, sodass im eröffneten Abgrund die vielgestaltigen Arten derer wahrgenommen werden konnten, die in der Meerestiefe schwimmen – sie hingen im Schlamm –, und die unendliche Weite der Täler und Berge, die der Ursprung der Dinge unter den unermesslichen Strudel verwiesen hatte und die jetzt, wie man meinen konnte, zu den Strahlen der Sonne aufblickten. Als nun viele Schiffe gleichsam auf trockenem Boden vertäut waren und Unzählige nach Belieben durch die spärlichen Reste der Wellen schweiften, um Fische und dergleichen mit den Händen zu sammeln, da erhebt sich, wie durch die Zurücksetzung gekränkt, ein Getöse des Meeres in entgegengesetzter Richtung, das über brodelnde Untiefen hinweg heftig auf Inseln und weite Gebiete des Festlands vorstieß und zahllose Gebäude in Städten, und wo sie sich fanden, einebnete, sodass danach durch die rasende Zwietracht der Elemente das überrollte Antlitz der Welt einen wunderlichen Anblick darbot. Denn die zurückgeflossene Masse des Meerwassers – als sie am wenigsten erwartet wurde – tötete und ertränkte viele tausend Menschen, und durch die rasche Wendung der zurückkehrenden Brandung waren einige Schiffe auf Grund gegangen (wie man sah, nachdem der Schwall der nassen Substanz gealtert war), und die entseelten Körper der Schiffbrüchigen lagen auf dem Rücken oder auf dem Gesicht. Riesige andere Schiffe, herausgetrieben durch das wütende Blasen, saßen auf den Firsten der Dächer fest, wie es in Alexandriageschah, und einige wurden beinahe zweitausend Schritte von der Küste entfernt herumgewirbelt, wie ein lakedämonisches, das wir nahe der Stadt Methone im Vorbeiweg sahen, von anhaltender Fäulnis zerfallend. (Übersetzt nach dem lateinischen Original in Kelly 2004, S. 141)
    Ammianus’ Schilderung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Als durchaus realistische Beschreibung hält sie vier wesentliche Phasen eines Tsunamis fest: das Erdbeben als Auslöser, das auffällige, rasche Zurückgehen des Wassers, die erste, vernichtende Tsunamiwelle und schließlich den Rückstrom mit seiner starken Sogwirkung. Die Beobachtung, wie die ahnungslosen Küstenbewohner auf den plötzlich bloßliegenden Meeresgrund hinauslaufen, um Fische und Meerestiere einzusammeln, erinnert frappierend an das Verhalten der ahnungslosen Touristen und Einheimischen am 26. April 2004 in Thailand, unmittelbar bevor die erste Tsunamiwelle die Küste erreichte.
    Das Erdbeben und der Tsunami im Jahre 365 wurden in zahlreichen spätantiken und mittelalterlichen Quellen beschrieben, von Historikern, Chronisten, Philosophen und Kirchenvätern. Kein Autor aber geht so sehr ins Detail wie Ammianus: Hier wird der Tsunami zur greifbaren Wirklichkeit, die sich von den Tsunamis unserer Zeit nicht unterscheidet.
    Tatsächlich aber ist die realistische – und gleichzeitig sprachlich so kunstvolle, geradezu manieristische – Schilderung nur ein untergeordneter Aspekt in Ammianus’ Text. Im Zusammenhang der
Res gestae
scheint dieser knappe, an einer historisch-politischen Schlüsselstelle platzierte Bericht weit über seine wörtliche Bedeutung hinauszugehen. Das Erdbeben und der folgende Tsunami erscheinen als Metapher für die starken politischen Unruhen der Zeit. Zunächst übernimmt Ammianus die übliche Technik antiker Geschichtsschreiber, Naturkatastrophen als eine Strafe oder als eine Warnung der Götter im Bezug auf politische Ereignisse zu deuten, und zwar sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft gerichtet: Sie stehen für die Katastrophe, die der Tod von Kaiser Julian im Jahr 363 nach Ammianus’ Ansicht für das Römische Reich bedeutete,gleichzeitig sind sie ein böses Omen für den Einfall der Hunnen in das Römische Reich, mit dem Ammianus seine
Res gestae
abschließt.
    Dass Ammianus mehrfach die Einzigartigkeit der Naturkatastrophe hervorhebt, ist ein gängiger Topos in Berichten jener Zeit. Er geht jedoch weit darüber hinaus: Seine Schilderung besitzt eine geradezu atemlose Intensität, springt von Ereignis zu Ereignis, spielt mit raschen Perspektivwechseln,

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