TTB 100: Der Traum der Maschine
das Schiff. Nig schaltete mit einer letzten Bewegung die Düsen aus. Er war gelandet.
Nig löste den Gurt von seinem Oberkörper und wischte sich mechanisch den Schweiß von der Stirn. Er tastete einige Kontrollknöpfe aus, sah die Uhren durch und stand dann auf.
»Du bist fehlerlos. Nichts konnte deine Landung gefährden – das hörte ich noch vor einigen Stunden. Du hast bewiesen, wie wenig du taugst. Immer noch ist der Mensch besser als die Maschine. Dein Hirn ist wertlos, Paramech!«
Die Gorgoyne machte keinen Versuch, darauf eine Antwort zu geben.
Nig Boyn blieb neben dem Sessel stehen und sah auf das Panorama, das sich seinen Augen bot. Weiße, zerklüftete Bergspitzen ragten in die Wolkenfetzen. Silberblauer Himmel mit zwei bleichen Monden wölbte sich über der schweigenden Landschaft. Von einem Abhang fuhr lautlos eine Lawine nieder. Ein Wasserfall aus Kristallen leuchtete auf, senkte sich und blieb liegen. Majestätisch ignorierten die Berge den stählernen Eindringling.
»Hoffentlich findet man das Schiff!« sagte Nig leise. Er ging auf den Alternativschacht zu, den die Maschine geöffnet hatte.
Jetzt, nachdem wieder normale Schwereverhältnisse herrschten, waren die Horizontalkorridore verschlossen und die Treppen geöffnet. Nach zwei Minuten kam Nig in seinen Wohnbezirk, den die Kardanmechanik herumgeschwungen hatte.
»Rundsicht!« befahl der Mann. Augenblicklich kam die Gorgoyne dem Befehl nach.
Der Gletscher befand sich inmitten von fünf Bergriesen, die ihn wie eine natürliche Mauer umgaben. Wolken trieben über dem Talkessel dahin wie Schatten über einen See.
Nig blickte staunend auf den Fels, der mit Eis bedeckt war. Auf der Ersten Welt gab es keine solchen Höhenunterschiede. Einer der Gipfel schien sich zu neigen – es waren die treibenden Wolken, die jenen Eindruck hervorriefen. Nig unterlag der Faszination der unberührten Natur.
Befriedigt atmete er ein und aus.
Plötzlich wußte er alles. Er wußte, daß sein Hirn einen langen Weg hinter sich hatte und viele Abenteuer. Nig Boyn erkannte, daß nur die kluge Vorsicht der Gorgoyne verhindert hatte, daß sein Hirn mit dem Körper eingefroren war; genauer, daß sie seine Gedanken am Leben erhalten hatte.
Andere Wesen ... ihm bestechend ähnlich ... andere Namen, Verhältnisse, Zeiten, Entfernungen, Dimensionen ... Anhetes, Nicholas, Morlok, Nigoel, Beaka, Beatrix, der Drachenritter ...
Später würde Nig Boyn alle diese Erlebnisse ordnen und verarbeiten. Jetzt konnte er mit dem kleinen Boot zur nächsten Stadt fliegen und mit seiner Mission beginnen.
Die lange Fahrt war beendet.
*
Für die Dauer einer nicht mehr feststellbaren Zeitspanne konzentrierte sich die Gesamtheit der vollkommenen Maschine auf die Wiederherstellung der ausgefallenen Teile. Tausende von Schaltleitungen wurden verändert, umgestellt. Für einen langen, entscheidenden Moment schien die Gorgoyne die anderen Wesen, die Figuren des Spiels mit den Gedanken Nig Boyn zu vergessen.
Aber sofort erinnerte sie sich wieder daran. Vorsichtig zapfte sie weitere Energie aus den immer noch überfunktionierenden Zellen ab. Nichts mehr konnte geschehen, aber das Spiel neigte sich unwiderruflich dem Ende zu.
Dem Ende zu ...
*
Nicholas Magat saß auf einem der ledergepolsterten Hocker an der langen Bar und rauchte. Nicholas fühlte sich im Augenblick ziemlich wohl. Neben ihm, auf der Stirnseite der L-förmigen Bar, waren noch ein paar Hocker leer, vor ihm hantierten zwei Mixer mit Flaschen, Gläsern und Tassen. Das internationale Gewimmel von eiligen Menschen und von Gepäckstücken, wie es nur ein großer Bahnhof oder ein Flugplatz bieten konnten, verwandelte die Bar in den Mittelpunkt eines geräuschvollen Strudels. Nicholas rührte langsam in seiner Tasse herum und trank aus.
Es war Dienstagmorgen. Acht Uhr fünfunddreißig. Nicholas erwartete Beatrice Grandjean. Der rote Fiat war auf dem großen Parkplatz vor dem Flughafengebäude abgestellt.
Die Aufregungen der letzten Tage erschienen Nicholas als etwas endgültig und unwiderruflich Vergangenes. Die hektische Arbeit am vierten Traumbild, der Besuch einer kleinlauten Claudine, die kurz darauf wieder gegangen war – für immer. Der lange Montag, angefüllt mit Gedanken an das Wiedersehen mit Beatrice und den vergeblichen Versuchen, den Kopf des Mädchens zeichnerisch festzuhalten.
»Noch einen Kaffee«, sagte Nicholas.
Der Mixer sah an ihm vorbei und brachte eine volle Tasse. Nicholas schaute voller
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