TTB 104: 200 Millionen Jahre später
Verdunkelung.
Das Gefühl des Wohlbefindens und des Übermuts, das sich nach der Überquerung der Brücke bei ihm eingestellt hatte, war jetzt stärker. Trotz seiner nicht ungefährlichen Lage ringelten sich Fäden der Befriedigung durch sein Bewußtsein. Es stimmte, daß er durch die Überquerung des Flusses aus kochendem Schlamm, wenn auch unter Zwang, eine Niederlage erlitten hatte; doch gleichermaßen war es ihm gelungen, seine Freiheit und die Rückkehr nach Gonwonlane zu erringen. Ob die Niederlage damit ausgeglichen war, vermochte er jedoch nicht zu sagen. Vermutlich noch längst nicht, doch immerhin war er frei und dadurch in der Lage, sich auf den nächsten Angriff vorzubereiten. Er mußte hier und sofort einen Strich ziehen und sagen: Nicht weiter! Von nun an mußten sich seine Handlungen auf genügend Informationen und gründlichen Überlegungen aufbauen.
Holroyd lachte kurz auf. Ein einzelner Mann, der große Entscheidungen in einer Welt fällen mußte, über die er fast gar nichts wußte, konnte in der ihm verbleibenden Zeit einfach nicht genügend lernen. Doch das Gefühl der Freiheit war angenehm!
Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, und Niyi fiel ihm ein. Selbstverständlich würde er von dem Angebot des Nushirs Gebrauch machen, wie es erwartet wurde. Ein Verzicht seinerseits würde dem Nushir mit Gewißheit berichtet werden, der es zumindest als unhöflich betrachten würde, und das durfte er nicht riskieren. Er wandte sich vom Fenster ab und erstarrte. Die dunkelhaarige Frau stand an der Tür zum Korridor, hielt ein Ohr dagegen gepreßt und lauschte angestrengt. Sie rollte die Augen und blickte Holroyd beschwörend an; dann – zu seinem unsäglichen Erstaunen – hob sie die Hand und legte den Zeigefinger in einer uralten Geste auf die Lippen. Endlich richtete sie sich auf und huschte durch den Raum auf ihn zu.
»Wir müssen rasch handeln«, flüsterte sie eilig. »Du hast die Lage sehr erschwert, als du Niyi auswähltest, statt Calya, in deren Körper ich eingetreten war, kurz bevor sie zu deiner Verteidigung einsprang. Ich mußte deshalb zu diesem überwechseln, und die blonde Frau wird sich daran erinnern, daß sie besessen gewesen war – wenn auch nur sehr schemenhaft. Wir haben dadurch etwas Zeit; doch wird sie früher oder später davon zu reden beginnen.«
Sie verstummte, und Holroyd sagte ärgerlich: »Was zum ...« Er brach ab und stand reglos wie eine Steinfigur, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Er sollte also erneut überrumpelt werden!
»Wer bist du?« fragte er dann rauh.
Die Frau flüsterte: »Ich bin jene, die die Große Klippe erkletterte, dich zu töten versuchte und dir dann den Ring Ptaths gab. Denke zurück: Hast du jemandem erzählt, daß du mich gesehen hast? Wenn nicht, dann muß es dir klar sein, daß ich nicht Ineznia bin.«
Ohne seinen Versuch einer Entgegnung zu beachten, drängte sie eilig weiter:
»Wir dürfen uns keine Sekunde aufhalten, das schwöre ich. In diesem Augenblick befindet sich Ineznia im Palast des Nushirs in Khotahay und versucht ihr Äußerstes, den Göttersessel Ptaths zu zerstören. Der Thron ist der letzte der ...«
Ihre Stimme wurde gepreßt und dann unhörbar, als ob ihre Zunge im Mund plötzlich zu groß geworden wäre. Sie schluckte angestrengt, versuchte es noch einmal und gab es dann auf, den Satz, der den schmerzhaften Block hervorrief, zu Ende zu sprechen. Gehetzt schloß sie:
»Wir müssen uns ohne Verzug dorthin begeben. Eine Stunde, ja, jede Minute kann bereits zu lang sein. Ptath, ich erkenne nur zu deutlich, wie oft du genarrt worden bist. Doch daran kann nun nichts mehr geändert werden. Du mußt noch eine weitere Chance eingehen ... jetzt gleich!«
Das Eigenartige bei der ganzen Sache war, daß Holroyds fester Entschluß, der so unumstößlich geschienen hatte, bereits nach dem ersten Argument ins Wanken geriet. Doch was sie sagte, stimmte. Er hatte niemandem von der hageren Frau erzählt. Ineznia konnte nicht wissen, auf welche Weise diese Frau damals zu ihm gekommen war, auch wenn sie vermutlich wußte, daß sie gekommen war. Folglich war dies die seit Äonen eingekerkerte L'Onee; und wenn ihm L'Onee jetzt bedeutete, daß er keine Zeit zu verlieren hatte, dann hatte er keine zu verlieren.
Er sah, daß ihn Niyi-L'Onee mit weiten, traurigen Augen anblickte. Er verspürte ein kurzes Gefühl der Dankbarkeit dafür, daß sie seine notwendige Gedankenkette nicht unterbrochen hatte, dann sagte er
Weitere Kostenlose Bücher