TTB 104: 200 Millionen Jahre später
die Wahrheit wissen.«
»Ah«, sagte Holroyd gelassen, »ich sehe, die nushirvanische Regierung ist die gleiche wie in Gonwonlane.«
Die eigenartigen, blauen Augen fixierten ihn mit einem Ausdruck der Unsicherheit und Neugier. Schließlich sagte der Nushir:
»Erklärt das näher!«
»Beide Regierungen werden von Frauen beherrscht«, entgegnete Holroyd ohne Zögern, und die beiden Frauen fuhren zischend auf. Wieder beugten sie sich in ihrer automatischen Weise zueinander hin, doch mußte eine weitere Reaktion – sicherlich auch zu ihrem Erstaunen – ausgeblieben sein, denn sie richteten sich sogleich wieder auf und saßen stumm auf ihren Plätzen. Dann zupfte die Dunkelhaarige erneut am Arm des Nushirs und sagte zornig, halb zu ihm gewandt und halb zu Holroyd:
»Es gibt nur einen Herrscher in Nushirvan. Aber wir sind seine Frauen. Wir sind an seinem Wohlergehen interessiert. Wir glänzen nur als Abglanz seiner Herrlichkeit. Wenn wir ihn beraten, dann nur als Instrumente seines Körpers. In diesem Fall sind wir die Werkzeuge, die spüren, daß Ihr lügt. Deshalb raten wir entschieden zur Folter – unverzüglich.«
Holroyd pfiff unterdrückt durch die Zähne. Sein Versuch, einen Keil zwischen den Herrscher und seine Frauen zu treiben, schien fehlzugehen. Nüchtern überlegte sich ein Teil seines Verstandes, was Folter wohl solch einem Körper wie dem seinen zufügen konnte. Die kalte, verwunderte Überlegung endete, als er die Verwandlung bemerkte, die in diesem Augenblick mit dem Gesicht der blonden Frau vorging.
Sie hatte auf den ersten Blick hübsch, aber uninteressant ausgesehen, und die zurückgesetzte Stellung ihres Sessels ließ darauf schließen, daß sie allenfalls als Zweitfrau galt. Sie veränderte sich. Sie richtete sich physisch auf, und die Bewegung schien eine geistige Parallele zu haben. Ihre Augen glühten vor Leben; Farbe kam in ihre Wangen. Sie saß einen Moment still, wie in Gedanken versunken, und sagte dann mit klingender Stimme:
»Sprich für dich selbst, Niyi. Wenn der Prinz die Wahrheit sagt – und was wir von Gonwonlane wissen, bestätigt seine Worte – dann ist er unser Verbündeter, nicht unser Gegner, und eine Konferenz unter angenehmeren Umständen wäre geboten, morgen früh nach dem Frühstück. Ich schlage vor, daß unser Gast eine Frau für die Nacht erhält und ein Wohnquartier zugeteilt bekommt.«
Stille trat ein. Zweimal öffnete die dunkle Niyi den Mund, um zu sprechen; zweimal wandte sie sich mit geballten Fäusten der blonden Frau zu, doch beide Male schien sowohl ihre Stimme, als auch der Wille zur Tat von ihrem blanken Erstaunen verdrängt zu werden. Schließlich blickte sie zu ihrem Herrn und wartete.
Der Nushir strich sich nachdenklich das glatte, fette Kinn. Doch endlich nickte er und sagte:
»So soll es sein, denn ich bin ebenfalls zu diesem Schluß gekommen. In Anbetracht des hohen Standes unseres Gastes darf er sich eine meiner beiden anwesenden Frauen auswählen. Morgen früh werden wir miteinander reden, und wenn alles zufriedenstellend verläuft, wird eine Skreereskorte den Herrn Ineznio zu seinen Truppen zurückbringen.« Er brach ab und fragte kurz: »Welche von meinen Frauen, großer Prinz?«
Ablehnung kam nicht in Frage, da sie eine tödliche Beleidigung bedeutet hätte. Und die Wahl war wirklich alles andere als schwer. Holroyd sagte ernst:
»Ich erwähle diejenige, die Niyi genannt wird, und danke Euch für diese große Ehre, edler Nushir. Ihr sollt es nicht bereuen.«
Dabei dachte er: Wie dumm wäre es, die dunkelhaarige, ihm feindlich gesinnte Frau eine ganze Nacht voll uneingeschränkter Überredungsversuche lang mit ihrem Ehemann alleinzulassen! Der Nushir entgegnete mit einem Ausdruck des Interesses:
»Ich hätte erwartet, daß Ihr die blonde Calya wählen würdet, wie alle anderen, die so geehrt wurden.« Er zuckte die Achseln und lächelte. »Es wird ein interessantes Erlebnis für dich sein, Niyi.«
Er zog an einer seidenen Schnur, die von der Decke herabhing. Sofort schwärmten Höflinge in den Saal. Innerhalb von zehn Minuten war Holroyd mit seiner Nachtgefährtin allein.
Am jenseitigen Ende des Hauptzimmers befand sich ein großes, ornamentales Fenster. Ohne die dunkelhaarige Frau zu beachten, ging Holroyd darauf zu und blickte hinaus. Unter ihm breitete sich die Stadt Drei aus. Ihre nur kümmerlich mit Lichtstäben beleuchteten Straßen gaben ihr etwas den Anstrich einer alten europäischen Stadt während teilweiser
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