TTB 106: Der dritte Planet
aufklappen. Nur seine krankhafte Phantasie spiegelte ihm das vor.
Aber er rasierte sich nicht. Er legte das Messer ins Schränkchen mit dem ungewissen Gefühl zurück, so dem Schicksal aus dem Wege zu gehen.
»Ist mir ganz egal, ob es üblich ist, sich jeden Tag zu rasieren«, murmelte er vor sich hin. »Ich will es nicht darauf ankommen lassen, daß meine Hand ausrutscht. Lieber besorge ich mir einen Rasierapparat. Ein Messer ist nichts für mich – ich bin zu nervös.«
Plötzlich, durch diese Worte hervorgerufen, erinnerte er sich einer Szene aus der Zeit vor achtzehn Jahren.
Er hatte eine Verabredung mit Sally und erinnerte sich, daß er ihr erklärt hatte, er sei extrem ruhig. »Nichts regt mich auf«, hatte er gesagt. Und das traf zu – damals. Er hatte ihr auch erzählt, daß er Kaffee nicht mochte, weil eine einzige Tasse ihn die ganze Nacht wach hielt. Daß er nicht rauchte, weil er weder den Geschmack noch den Duft leiden konnte. »Mir liegt daran, gesund zu bleiben«, hatte er auch gesagt und erinnerte sich noch deutlich an jedes Wort.
»Und nun? « murmelte er seinem mageren, zermürbt aussehenden Spiegelbild zu.
Nun trank er mehrere Liter Kaffee täglich. Nun rauchte er endlose Ketten von Zigaretten, bis seine Kehle sich geschwollen und wie roh anfühlte und er nicht mehr schreiben konnte, weil der Bleistift in seiner Hand zu sehr zitterte.
Doch alle diese Reizmittel halfen ihm beim Schreiben nicht ein bißchen. Das Papier in seiner Schreibmaschine blieb leer. Worte, die er suchte, fielen ihm nicht ein; Handlungen zerrannen ihm zwischen den Fingern. Charaktere entzogen sich ihm und spotteten seiner hinter dem Schleier ihres Nie-geschaffen-Werdens.
Und die Zeit ging dahin, flog schneller und schneller vorbei. Sie, die er jetzt so hoch schätzte, daß ihr Verlust ihm Übelkeit verursachte.
Beim Zähneputzen versuchte er, sich zu erinnern, wann sein unbeherrschtes Temperament zuerst angefangen hatte, die Oberhand über ihn zu gewinnen. Aber es fiel ihm nicht ein. Irgendwann, in Nebeln, die er nicht durchdringen konnte, hat es begonnen. Mit einem mürrischen Wort, einem ärgerlichen Zusammenziehen der Muskeln. Mit einem Blick unwiderruflicher Feindseligkeit.
Und von da an hatte es wie eine schwellende Amöbe seinen perversen Lauf genommen, bis es die gegenwärtige Höhe in ihm erreichte. Ein verkrampfter, verbitterter Mann war er geworden, der seinen einzigen Trost im Hassen fand.
Er spie weißen Schaum aus und spülte sich den Mund. Als er das Glas hinstellte, zerbrach es, und ein Splitter bohrte sich in seine Hand.
»Verflucht noch mal!« brüllte er.
Er fuhr auf dem Absatz herum und ballte die Hand zur Faust. Sie sprang sofort wieder auf, als der Splitter sich dabei in die Handfläche drückte. Mit Tränen auf den Wangen stand er und atmete schwer. Er mußte daran denken, daß Sally ihn hören und noch einmal erleben konnte, wie seine Nerven bei jeder Kleinigkeit durchgingen.
Hör auf damit! befahl er sich selbst. Du kannst nie wieder etwas schaffen, wenn du dich von diesem alles zerstörenden Temperament nicht frei machst.
Er schloß die Augen. Einen Augenblick lang überlegte er, weshalb ihm in letzter Zeit alles nur Denkbare zustieß. Als ob eine rachsüchtige Macht sich im Hause niedergelassen hätte und tote Dinge mit wildem Leben erfüllte, das ihn bedrohte. Aber auch dieser Gedanke war nur einer von vielen in der zerstörerischen Menge anderer Gedanken, die ihn quälten, so daß er ihn schnell vergaß.
Er zog den Glassplitter aus der Hand. Dann band er eine dunkle Krawatte um.
Er ging ins Eßzimmer und sah nach seiner Uhr. Es war schon zehn Uhr dreißig. Mehr als die Hälfte des Vormittags war vorüber. Mehr als die Hälfte der Zeit, in der er hätte sitzen und eine Prosa schreiben können, bei der die Leute den Atem angehalten hätten.
Das geschah jetzt viel öfter, als er sich selbst hätte zugestehen mögen. Lange schlafen und alles mögliche tun, um den schrecklichen Augenblick hinauszuschieben, da er sich an seine Schreibmaschine setzen und versuchen mußte, der wachsenden Wüste seines Verstandes eine Art Ernte zu entreißen.
Es wurde jedesmal schwerer. Und er wurde jedesmal ärgerlicher und haßte alles um sich herum heftiger. Und hatte bis vor kurzem nie bemerkt, bis jetzt, da es zu spät war, daß Sally allmählich verzweifelte und seinen Haß ebensowenig länger ertragen konnte wie sein Temperament.
Sie saß am Küchentisch und trank schwarzen Kaffee. Auch sie trank
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