Tuchfuehlung
zurück.
Am liebsten ginge ich jetzt aufs Klo, um das Päckchen aufzumachen. Das ist kein gewöhnliches Geschenk, das ist mir klar.
Aber ich muss warten. Freiwillig betrete ich kein öffentliches Klo mehr. In diesem Leben nicht. Das hab ich mir damals schon geschworen. Damals im Hort schon. Und ich habe durchgehalten. Bis ich nicht mehr durchhalten konnte. Bis er mich ins Internat gesteckt hat. Und da musste ich schließ lich mal aufs Klo. Ich will nicht daran denken ...
Meistens gelingt es mir, die alten Bilder wegzuschicken. Nur manchmal, da sind sie hartnäckig. Da bleiben sie. Dann läuft ein Film ab, dieser besondere Film, und ich kann ihn nicht abstellen.
Es klingelt. Fünfte Stunde Biologie. Zurzeit mein Lieblings fach. Das wird mich retten. Heute ist Alex mit seinem Referat dran. « Die sechs goldenen Lebensregeln der Hildegard von Bingen.»
Aber Hildegard rettet mich in diesem Moment nicht. Die alten Bilder! Sie sind da. Und das an meinem Geburtstag. Sie nehmen einfach keine Rücksicht. Auf nichts und niemanden ...
Es war vor sechs Jahren. Nachdem sie weggegangen war. Er kam nicht mehr mit mir klar. Niemand kam mehr klar mit mir. Nur Laura. Mit Laura hab ich noch geredet. Nur mit ihr.
In der neuen Schule ging von Anfang an alles schief. Der Hort war die reinste Folter. Ich hab es nicht geschafft, Freun de zu finden.
Er hat mich zur Erziehungsberatung geschickt. Und die waren dann auch seiner Meinung. Ein Internat. Ja, das könn te mich retten. Ich wollte nicht. Aber er hat mich trotzdem dort abgeliefert.
Gleich am ersten Abend geht es los.
Ich muss aufs Klo. Ob ich will oder nicht. Ich hab gar keine andere Wahl. Da steht schon einer.
Jan. Klein und schlank. Braune Augen, dunkle Haare. Lang und lockig. Ich muss ihn anschauen. Ich kann nicht anders. Ich suche seine Nähe, verfolge ihn mit dem nötigen Abstand, er soll es nicht merken. Natürlich merkt er es. Auch er beobachtet mich, verfolgt mich... Immer dann, wenn ich zum Klo gehe oder in den Duschraum.
Meine schulischen Leistungen sind eine Katastrophe. Ich rede nicht. Kann nicht mehr reden. Aber Reden ist das Wichtigste im Leben. In der Gruppe finde ich keinen Anschluss. Cliquen und Freundschaften sind schon aufgeteilt, fest verbündet. Ich hab keine Chance. Ich teile das Zimmer mit Han no und Fabian. Sie dulden mich, aber ich störe nur. Ich kann von Glück sagen, dass sie mich nicht fertig machen. Bisher hatten sie das Zimmer für sich allein.
Auch Jan hat einen Freund. Tristan! Trotzdem sucht Jan meine Nähe. Und wieder spüre ich diese Spannung, diesen Faden, kurz vor dem Zerreißen.
Ich kann mich nicht konzentrieren. Trotz Nachhilfe gelingt mir keine einzige Arbeit. Ich will zurück. Zu Laura. Es ist kaum auszuhalten. Noch schützt mich mein Panzer. Nur keine Tränen! Nie.
Dann dieser besondere Abend. Alle sitzen vor dem Fernseher im Gruppenraum.
Fußballweltmeisterschaft! Ich hasse Bälle. Und Fußbälle sowieso. Ich verlasse den Raum. Sein Blick folgt mir. Ich bin nervös. Ich ahne es. Ich ahne, was passieren wird. Es ist so weit. Auch Jan verlässt den Raum. Er kommt hinter mir her.
«Was hast du vor?»
« Duschen!» Das heiße Wasser prasselt auf meine Haut. Es wärmt mich, tröstet mich, weicht den Panzer auf. Ich seife mich ein. Mit «Lagerfeld», dem Duschgel meines Vaters. Ich sauge den Geruch ein, frisch und aufregend. Da steht er neben mir. Nackt wie ich. Er zögert nicht. Er hat keine Zeit. Wir haben keine Zeit. Sie lauern schon. Nicht mehr lange, und sie werden kommen! Ich kann nicht anders. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Es ist wie ein Sog, der mich mitzieht. Wie damals. Nein, es ist anders als damals.
Steffen war Steffen.
Und Steffen war mein Freund. Dieser besondere, unsichtbare Freund.
Jan ist Jan. Ich könnte heulen. Ich würde gerne heulen. Aber das geht nicht mehr. Die Tränen sind eingemauert.
Ich berühre ihn. Fester, nicht so vorsichtig wie damals. Ich fasse zwischen seine Beine, reibe sein Glied mit meinen Händen. So wie er meins. Ein kurzer Moment des Glücks, dann ist es vorbei.
Aber es kommt wieder. Dieses Gefühl, dieses Verlangen, dieser Zwang. Es lässt uns nicht los. Wir brauchen es. Jeden Tag. Den ganzen Tag lang lebe ich auf diesen Moment hin. Auf das geheime Abenteuer. Lustvoll. Gefährlich. Besetzt mit Scham und Angst. Und doch müssen wir es tun. Immer wieder. Und tief in mir die Stimme. Nie wieder! Niemals wieder, Zeno! Aber die Stimme ist nicht laut genug. Ich höre nicht auf sie.
Weitere Kostenlose Bücher