Tuchfuehlung
Kohlehydrate, lebensnotwendige Minera lien, die wichtigsten Vitamine und Spurenelemente. Bei mir gibt ’ s nur noch Gerichte nach den Rezepten der heiligen Hildegard!»
Damit können sie absolut nichts anfangen.
Damit sind sie total überfordert.
Sie sagen kein Wort.
Beate Minnerup isst schweigend ihren Teller leer. Jetzt ein wohl erzogenes Kind. Sie kaut jeden Bissen dreißigmal, ganz so, als hätte sie Hildegards Anweisungen gelesen.
Mein Vater stochert immer noch lustlos auf dem Teller herum. Aber er verkneift sich dann doch den Gang zum Kühlschrank, um sich die Flasche Ketchup zu holen.
«Was willst du denn mal werden, Zeno?»
Frau Minnerup lehnt sich erleichtert zurück. Sie hat es schließlich geschafft. Ihr Teller ist leer.
Ob sie sich ein zweites Mal einladen lässt?
Wohl kaum ...
«Wahrscheinlich Koch!», sage ich.
«Nicht schon wieder, Zeno!», sagt mein Vater. «Du verdirbst mir den Appetit!»
«Und dann mach ich ein Restaurant mit Dinkelspezialitäten auf!»
Mein Vater schiebt den Teller zur Seite.
« Hör auf, Zeno! Ich kann das nicht mehr hören! Lass dir endlich was anderes einfallen!»
Ich fange an, den Tisch abzuräumen.
Sie stehen auf und steuern auf das Zimmer meines Vaters zu. Dem Mittagsschlaf entgegen, was auch immer das heißt.
An der Tür dreht er sich um.
«Du hast mir schon lange keine Klassenarbeiten mehr vor gelegt. Wie steht ’ s damit?»
«Gut!», sage ich. «Alles in Ordnung!»
«Schön!», sagt er. «Und was wünschst du dir zum Geburts tag?»
«Eine Lederhose!», sage ich. «So eine echte Motorradleder hose!»
Er lächelt. Mein Vater ist mit seinem Sohn zufrieden.
«Und das Motorrad?»
«Später!», sage ich.
« Geht klar!», sagt er.
Er lächelt immer noch.
«Vielleicht eine Jacke dazu?»
Dann wäre die Tarnung perfekt...
«Reichen dir tausend Mark?»
Ich hab keine Ahnung. Lederklamotten haben mich nie inter es siert.
«Hol dir das Geld morgen ab», sagt er.
Er lächelt noch immer.
Leder lässt ihn hoffen ...
Kann ein Mensch überhaupt jemals glücklich werden, wenn er im Monat des Regens, der Herbststürme, des feuch ten Nebels geboren ist?
Seit ich denken kann, weckt mich an meinem Geburtstag ein grauer Himmel. Jedes Jahr am 1. November.
Das ist heute nicht anders. Eher noch schlimmer als sonst.
Schwere schwarze Wolken begleiten mich auf dem Weg zur U-Bahn.
Nicht mehr lange, und es wird wieder zu schütten anfangen.
Den Regen fürchte ich heute nicht, obwohl ich ihn hasse, weil er an meiner Stimmung zerrt. Heute bin ich geschützt. Eingehüllt in schwarzes Leder.
Die tausend Mark haben gereicht. Für die Hose, die Jacke. Sogar für hohe schwarze Lederstiefel.
Aber ich habe mich nicht getraut, in den Spiegel zu schauen. Ich fühle mich fremd in dieser Lederhaut.
So fremd, dass es wehtut.
Mein Vater ist heute sogar vor mir aufgestanden. Er hat mir ein Geburtstagsfrühstück gemacht, mit Ei und Orangen saft. Und stolz gelächelt.
«So gefällst du mir, Zeno! Hat das Geld gereicht?»
Zum Glück verlangt er keine Abrechnung. Die Lederklamot ten waren günstig. Alles Sonderpreise. Den Rest hab ich in meine Träume investiert. Schwarzer Samt. Fünf Meter! Ich hab ihn gut versteckt.
Siebzehn Jahre! Ein Jahr noch. Dann kann ich tun, was ich will. Wie wird dieses Jahr werden? Gut oder schlecht? Schlecht zu sagen. Es wird viel passieren. Das weiß ich schon. Aber ich weiß nicht, was. Gleich zum Beispiel. Wenn ich mit meinem neuen Outfit die Klasse betrete. Ich hab keine Ahnung, was dann passiert. Immerhin: Der Tag beginnt verheißungsvoll. Noch hab ich Glück. Wenn das so weitergeht, dieses Jahr ...
Eine Vier in Englisch, eine Vier in Mathe. Und die echte Bewunderung der Killer und Tätowierten.
« Saustark, Zeno!»
«Passt zu dir!»
«Jetzt noch Krafttraining! Dann bist du o. k.»
Nur Eva guckt skeptisch.
In der Pause sagt sie:« Das hat mit dir, Zeno Zimmermann, nun wirklich nichts zu tun! Wozu brauchst du das? Zur Tarnung?»
Sie durchbohrt mich mit ihrem Blick. Und dieses Mal halte ich ihn aus, diesen verdammten Psychoblick. Mit Pflaster über der Lindenblattsteile. Ich trau mich sogar zu fragen.
«Was glaubst du denn?»
«Das weißt du doch genau!» Sie guckt ernst. Eine Spur zu ernst. «Hier! Dein Geburtstagsgeschenk!» Sie drückt mir ein Päckchen in die Hand. «Pack es besser zu Hause aus. W ä r nicht so günstig, wenn bestimmte Leute das sehen würden.»
«Danke», sage ich. Sie lässt mich verwirrt
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