Tuchfuehlung
Komponistin gewesen ist. Ganz unten, im rechten Stiefel eine CD. «The Music of Hildegard von Bingen.»
Ich hab Beate echt unterschätzt. Tut mir irgendwie Leid. Wie kann ich mich revanchieren? Wenn ich ihr einen Stuten kerl backe? In Ofenblechgröße?
Ich werfe die Scheibe in den CD-Player. Und weiß schon nach den ersten Tönen, Sting bekommt Konkurrenz.
Ich lege mich aufs Bett und schließe die Augen.
Ich verstehe wenig. Meine Lateinkenntnisse reichen nicht, aber meine Ohren sind trotzdem ganz beeindruckt von dem, was sie jetzt zu hören bekommen. Diese Musik hat etwas Schwebendes, verführerisch Einlullendes. Die richtige Musik für genervte, überforderte Menschen. Die richtige Musik zum Davonfliegen.
Eine Frauenstimme, engelsgleich, schwebt auf Ethno- und Synthiteppichen davon und nimmt mich mit. Flöten, Trom meln, Lauten und Harfen hüllen mich ein. Sanft, betörend sanft.
Von dieser CD trenne ich mich heute nicht mehr. Sie be glei tet mich beim Ansetzen des Hefeteigs, beim Formen der Stutenkerle.
Ich trenne mich erst um vier von ihr. Und auch nur, weil mich meine Arbeit ruft. Nun steigt Nikolaus die 163 Stufen nach unten. Knecht Ruprecht begleitet ihn nicht.
Heute belagert mich Sophia mit ihren neuen Bilderbüchern. Immer wieder hält sie mir die erste Seite vor die Nase, zeigt mit dem Finger unter den ersten Satz. Das heißt: «Los, Zeno! Fang an und lies vor!»
Dabei zerkrümelt sie ein Bein des Stutenkerls und ist zufrieden.
Draußen lockt die winterliche Landschaft. Ich pack mir Sophia auf die Schultern.
Ein Gang über den Weihnachtsmarkt?
Zur Tarnung Lauras Palästinensertuch. Das wird reichen.
Eigentlich mag ich keine Weihnachtsmärkte. Seit Jahren hat mich keiner mehr gelockt. Seit Jahren hat niemand mich überreden können. Selbst Laura nicht.
Der letzte Weihnachtsmarkt ist lange her, trotzdem hab ich noch den Geschmack der gebrannten Mandeln im Mund ... und den Geruch des Glühweins in der Nase ... Der gehörte für sie dazu. Auch wenn es viel zu warm war für Glühwein.
Jetzt sind wir mittendrin. Ein Vorwärtskommen nur im Zeitlupentempo. Sophia hat alles voll im Blick. Fast ein Meter achtzig über der Erde. Sie erzählt und singt ihr Lieblingslied. «Damaladatamaba!» Oder so ähnlich. Ich kenne immer noch nicht alle Strophen.
Ich schiebe mich vorwärts. Kaufe gebrannte Mandeln, beiße zu, hart, viel zu hart. Keine Krokantschicht. Nein! Das war Schale. Harte Mandelschale. Zu hart für meinen rechten Backenzahn. Ein Wahnsinnsschmerz durchzieht mein Gesicht. Nein, zum Zahnarzt bitte nicht. Ich betäube den Schmerz mit Glühwein. Sophia verklebt meine Haare mit Zuckerwatte und singt ihr Lieblingslied Nummer z wei: «Backebackebacke !» Was sie backt, verrät sie nicht.
Ich schlürfe den heißen, süßen Wein. Denke an Hildegard. Bin froh, dass ich mich von ihrem Wundermittel befreit habe. Ich fühle mich sowieso ziemlich befreit. Ich glaube, es geht aufwärts mit mir.
Da seh ich im Menschengewühl des Glühweinstandes ein bekanntes Gesicht. Ein mir sehr bekanntes Gesicht. Ein Gesicht, dem ich heute lieber nicht begegnen möchte. Tabea Rosenkranz! Sie hat mich schon erkannt und winkt mir zu. Nein! Ich hab sie nicht gesehen. So schnell wie möglich, so geheim wie möglich verlasse ich den Weihnachtsmarkt. Den Glühwein lasse ich stehen.
Martin M. bin ich noch nicht wieder begegnet. Manchmal, wenn ich aus dem Fenster schaue, seh ich ihn eilig das Haus verlassen. Die Vorarbeiten für seine Bestellung sind schon seit Tagen abgeschlossen. Ich hätte ihm schon längst einen Termin für die Anprobe vorschlagen können. Keine Ah nung, was mich zögern lässt.
Jetzt öffnet er die Tür. Strahlt mich an mit dunklen Augen, zwinkert mir zu und sagt:
«Du lässt mich ja ganz schön lange warten!»
Ja, ich weiß. So eine Behandlung ist er nicht gewöhnt.
«Morgen früh?», sage ich.
«Ja, das passt!», sagt er. «Am besten zum Frühstück! Sagen wir um zehn?»
Immerhin, er lässt sich zu einem Fragezeichen herab, der Herr...
Ich setze Sophia in die Badewanne. Zum Abendbrot verspeist sie das linke Bein des Stutenkerls. Im Bett hält sie mir ihre neuesten literarischen Werke unter die Nase.
«Da!», sagt sie. Das heißt: «Bitte, lieber Zeno, lies mir bitte meine neuen Bücher vor!»
« Guten Abend, liebe Nacht!
Mond und Sterne stehen,
Zeit zum Schlafengehen.
Zähneputzen, ritsch-ratsch,
rein ins Wasser, plitsch-platsch.
Schon sind wir so weit,
und das Bettchen steht
Weitere Kostenlose Bücher