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Tuchfuehlung

Tuchfuehlung

Titel: Tuchfuehlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Meissner-Johannknecht
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Haut, die Lippen geschlossen, sinnlich gewölbt, die Augen zusammengekniffen. Soll das verführerisch sein, dieser Blick? Ich mag diese billige Art der Anmache nicht.
    Dann schlag ich die Hefte auf. Tauche ein, tauche unter in diese Welt. Ja, auch meine Welt. Das weiß ich, als ich nach zwei Stunden wieder auftauche und mir zur Abkühlung eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank hole.
    Nicht nur eine schöne Welt. Das weiß ich jetzt schon. Eine Welt der Lust, der Abenteuer, der Gefahren, der tödlichen Gefahr! Eine triebhafte Welt. Der schnelle Sex. Der kostenlose Sex auf Bahnhofsklos, auf Autobahnparkplätzen, in Parks. Der Sex in Saunas, Darkrooms, Spezialbordellen. Sex überall. Immer öfter, immer härter, immer brutaler. Mit Ket ten und Peitschen. Mir wird schlecht.
    Ich versteh sie nicht. Ich kann sie nicht verstehen. Die «Gay Cannibals» zum Beispiel. Ihr Ziel: Ficken mit Spaß! Sie sehen sich selbst als eine «reine Stoßbewegung». Sie sind zwischen 16 und 26. Glatt rasiert und triebhaft. Sie lieben Sex, aber selten Menschen. Beziehungen sind tabu, bloß keine Ge fühls duse leien. Zärtlichkeit, nein danke! Gruppensex ist an ge sagt, keine romantische Liebe, sondern der unkomplizierte Triebabbau. «Ich will mich gar nicht vom Tier unterschei den», sagt einer.
    Ich will es aber!
    Wozu bin ich ein Mensch? Mir ist sauschlecht.
    Von so viel Sex muss ich kotzen. Ich stürze ins Bad und übergebe mich.
    Das kann doch nicht alles sein. Nein! Und ich weiß, dass es nicht alles ist. Es muss auch die Liebe geben. Und es gibt sie. Ich weiß es. Auch, wenn es vielleicht nicht zählt, weil ich noch so jung war. Aber meine Liebe zu Steffen – das war Liebe!
    Ich muss heulen. Und ich heule. Den Panzer hab ich in die Garage gefahren. Ich kann kaum aufhören zu heulen. Die aufgestauten Tränen der letzten sechs Jahre?
    Irgendwann geht es mir besser. Irgendwann schlaf ich ein.
     
    Um halb acht werd ich wach. Sie stehen auf. Aber mir droht keine Gefahr. Bis jetzt haben sie noch nie in mein Zimmer geschaut.
    Ich schlafe wieder ein. Und werde erst wieder wach, als ich die Glocken der Nicolaikirche höre. Zwölf dumpfe Schläge. Ich koche mir Kaffee, ein Ei, toaste zwei Scheiben Brot, lege mich wieder ins Bett. Da fällt mir meine Nachtlektüre ein. Weiß ich alles, was ich wissen will? Muss ich jetzt schon alles wissen?
    Bin ich das? Zeno Zimmermann? Bin ich schwul?
    Woher weiß ich denn so genau, dass ich schwul bin?
    Du bist es eben! Es ist so! Akzeptier es endlich!
    Ja! Ja!
    Ich trinke den heißen Kaffee. Bitter und schwarz. Viel zu bitter und viel zu schwarz.
    Und was bedeutet das? Schwul sein. Ewig ein Außenseiter? Ein ganzes Leben lang? Mit wem kann ich reden? Mir fällt niemand ein. Wirklich niemand.
    Ich habe eine verdammte Angst. Angst vor der Ausgrenzung, vor der Verachtung, Angst vor der tödlichen Krankheit. Ich werde keine Familie, keine Kinder haben. Oder dürfen Schwule Kinder adoptieren?
    Ist das ein Leben?
    Wo finde ich Menschen, die so sind wie ich?
    Ich will kein Leben, versteckt auf Bahnhofklos, in Parks. Ich will kein Leben ohne Beziehungen, ich will die Liebe!
    Ich schütte mir neuen Kaffee ein. Schlucke das schwarze Getränk wie bittere Medizin. Ohne Wirkung. Meine dunklen Gedanken verlassen mich nicht.
    Und was war neulich, Zeno Zimmermann? Auf dem Klo im «Lenz»? Oder im Internat? Die Geschichte mit Jan?
    Du bist auch nicht besser als die anderen. Du bist...!
    Nein, hör auf!
     
    Es klingelt. Schon wieder klingelt es. Alex?
    Tabea Rosenkranz?
    Alex vermisse ich. Tabea Rosenkranz vermisse ich nicht. Im Gegenteil. Ich will nicht mehr in die Schule. Was soll ich da? Ich bring einfach nicht das, was ich dort bringen muss. Und ich kann es nicht ändern.
    Ich stehe vor der Gegensprechanlage im Flur. Ich habe Angst. Da höre ich, wie jemand die Stufen hochläuft. Vor unse rer Tür bleibt er stehen. Klingelt ein zweites Mal. Ich schau durch das Guckloch. Etwas Schwarzes. Martin M.?
    Hat er das wirklich ernst gemeint?
    Ich öffne die Tür. Erst als er vor mir steht und sich unsere Blicke treffen, merke ich, dass ich noch nicht angezogen bin. Ich steh vor ihm in T-Shirt und Boxershorts. Ich werde rot, knallrot.
    Er grinst. «Darf ich reinkommen?»
    Er wartet nicht ab.
    Er scheint gewöhnt zu bekommen, was er will. Im Moment wären mir sogar die Killer lieber. Aber die gibt es nicht mehr. Wie ausgestorben.
    Er ist schon im Wohnzimmer.
    «Es riecht nach Kaffee!», sagt er. «Hast du noch einen für

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