Tuchfuehlung
bereit.
Für den müden Wicht
noch ein Nachtgedicht.
Dann die Lampe ausgemacht –
gute Nacht!»
Auch ich mach das Licht aus, wie der Bär in der Ge schichte, auch ich sage
«Gute Nacht!»
Aber Sophia ist heute nicht so pflegeleicht wie der kleine weiße Hase in der Geschichte.
Sie steht auf, macht die Lampe wieder an, hält mir das Buch unter die Nase.
« Da!»
Was soll ich tun?
Das Wort «Nein» fällt mir momentan nicht ein. Es ist mir irgendwie abhanden gekommen.
Also lese ich noch einmal « Guten Abend, liebe Nacht!»
Und noch einmal und noch einmal. Ich zähl nicht mehr, wie oft. Ich lese so lange, bis Sophia endlich genug hat, ihr die Augen zufallen und ich mich endlich aus dem Zimmer schleichen kann. Da hat mich schon wieder jemand voll im Griff.
Wie passiert das bloß immer wieder?
Martin M. sitzt im Wohnzimmer. Auf dem Tisch ein Glas Rot wein, in der Hand eine Zigarette. Er ist konzentriert, blät tert in Papieren, macht sich Notizen. Ich betrachte ihn, will mich abwenden, viel zu lange schon betrachte ich ihn, aber ich kann meinen Blick nicht abwenden ...
Jetzt schaut er auf. Er sieht mich an, aber noch ist sein Blick irgendwo, nicht bei mir.
Bei seiner Inszenierung? Langsam interessiert mich das Produkt seiner Arbeit schon.
Jetzt winkt er mir zu, zeigt vor sich auf den Rotwein.
«Nein!», sage ich. «Ich muss noch die Sachen für die Anprobe fertig machen!»
Ich trenne mich von seinem Blick. Bevor irgendwas passiert, was ich nicht will.
Du spinnst, Zeno Zimmermann! Es sind doch nicht alle Männer schwul, die freundlich zu dir sind! Nur zehn Prozent der Menschheit! Nicht jeder! Und auch nicht jeder Zwei te!
Ich bin froh, als ich oben bin.
Ich leg mir meine neue CD ein, werfe mich aufs Bett und lausche der Musik. Sie fängt mich sofort wieder ein.
Ich werde immer ruhiger. Selbst Tabea Rosenkranz winkt nur noch von ferne.
Wer sagt, dass sie mich wirklich erkannt hat?
Ich versuche nachzurechnen. Wie lange ist meine Entschul digung schon überfällig?
Ich habe den Überblick verloren. Und Hildegards Harfenklänge tragen meine Probleme davon.
Meine Augen fallen zu. Dieser Tag ist gelaufen.
Meine rechte Gesichtshälfte ist immer noch seltsam taub. Im rechten Backenzahn immer noch ein unbeschreibbarer Schmerz. Aber auch den besänftigt Hildegard mit ihren zarten Klängen der Laute.
Nur meinen Magen besänftigt sie nicht. Der knurrt un über hörbar. Seit ich mich wieder mehr der Nähmaschine widme, vernachlässige ich die Küche. Es ist ewig lange her, dass ich was Richtiges gekocht habe. Ich könnte sie natürlich mal wieder überraschen. Nein, nicht mit Dinkelklößen. Hilde gard hat in ihrer «Ernährungstherapie» auch Fleischgerichte vorgesehen.
Ja, ich werde sie überraschen!
Die Geschäfte sind schon geschlossen. Was Frisches also nicht. Ausnahmsweise mal ein Griff in die Gefriertruhe. Die hat wenig zu bieten, nachdem ich mir vorgenommen habe, auf frische, gesunde Ernährung umzusteigen, und seitdem mein Vater und Beate Minnerup sich entschlossen haben, möglichst wenig Zeit in der Küche zu vergeuden.
Ich finde ein paar einsame Fertigpizzas. Die Reserve für die Killer. Aber ihre Zeit ist vorbei.
Ich finde vier Lammsteaks, vier Lachssteaks. Lachs finde ich in Hildegards «Ernährungstherapie» nicht. Aber sie äußert sich ganz freundlich zum Lammfleisch. Es wird besonders bei Kraftlosigkeit, Krampfaderleiden und Bindegewebs schwäche empfohlen.
Schaden wird es also niemandem.
Ich finde ein Rezept. Ein Esslöffel Dinkelmehl fehlt natürlich nicht. Was gibt ’ s dazu?
Hildegard macht keine Empfehlung. Ich hole das letzte Fladenbrot aus der Truhe.
Das muss heute reichen.
Ja, sie freuen sich.
Zum Essen gibt es «The Music of Hildegard von Bingen». Sogar mein Vater ist mal wieder begeistert.
Nach dem Essen verzieht er sich an seinen Computer. Ich widme mich heute der Kontaktlinsenberaterin als Sohnersatz. Ich setze mich zu ihr auf die gelbe Couch und zieh mir mit ihr ganz gemütlich einen Krimi rein, obwohl ich Krimis hasse, weil ich sie gar nicht aushalte.
Wir teilen uns eine Flasche Rotwein. Ich biete ihr Nüsse und Pralinen an, den Krimi verfolge ich kaum. Irgendwann gebe ich ihn ganz auf. Ich bin auch ohne Leichen zufrieden. Ja, es geht aufwärts mit Zeno Zimmermann.
Nur, warum sag ich es keinem?
Warum sag ich es ihr nicht? Jetzt und hier?
Oder ihm? Er ist schließlich mein Vater.
Morgen vielleicht!
Der Rotwein macht mich wunderbar müde ...
Da reißt
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