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Tuchfuehlung

Tuchfuehlung

Titel: Tuchfuehlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Meissner-Johannknecht
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mein Vater die Tür auf.
    Sein Gesicht ist rot. Verachtung in seinem Blick.
    Diese Verachtung fürchte ich.
    Deshalb kann ich nicht mit ihm reden.
    Was ist passiert?
    Es hat niemand geklingelt. Nicht an der Tür. Nicht am Telefon.
    «Zeno!», sagt er. In seiner Stimme tobt ein Gewitter. «Komm bitte!»
    Ich folge ihm in sein Zimmer. Mein Blick fällt auf den Com puter. Mein Blick erkennt den Brief sofort.
    Die gefälschte Entschuldigung! Wie konnte das passieren? Hat Alex die falschen Knöpfe gedrückt?
    Egal. Jetzt ist sowieso alles egal.
    Mein Vater ist ruhig. Seltsam ruhig. Unberechenbar ruhig.
    Nach einer halben Ewigkeit schließlich sagt er:
    «Hast du was dazu zu sagen?»
    «Nein!», sage ich.
    «Gut!», sagt er. «Dann rufe ich jetzt deine Lehrerin an. Du kannst gehen!»
    Ich geh in mein Zimmer. Und schließe die Tür. Lege mich aufs Bett und lasse mich von Hildegards Sphärenklängen ein hüllen und trösten.
    Ich werde wunderbar ruhig.
    Wer weiß, ob er Tabea Rosenkranz heute noch erreicht?
    Mich kann mein zorniger Vater jedenfalls nicht mehr erreichen. Nicht wirklich.
    Doch dann schlägt er zu.
    Die Tür geht nicht auf.
    Er hämmert dagegen.
    «Ich muss mit dir reden! Mach auf!»
    Noch bin ich ruhig.
    Noch ist mir warm.
    Wenn ich nicht öffne, tritt er die Tür ein.
    So wütend wie heute war er noch nie.
    Ich ahne, was er mir zu sagen hat. Ja, ich kenne seine Wor te schon, ohne dass er sie ausgesprochen hat.
    Ich mach die Tür auf.
    Ich weiche schnell zur Seite.
    Er steht vor mir. Erstaunlich ruhig.
    «Morgen früh gehst du zur Schule. Und zwar allein. Du bist alt genug. Und nach den Weihnachtsferien wartet ein Internat auf dich. Deine Leistungen sind hoffnungslos. Das habe ich gerade erfahren. Wenn du in diesem Jahr die Neun nicht schaffst, musst du die Schule verlassen. Ohne Haupt schulabschluss. Und damit bekommst du nirgendwo eine Lehr stelle. Mach dir das endlich mal klar! Die letzte Chance also! Nutze sie! Wenn nicht, dann musst du eben Hilfsarbeiter werden. Ich kann dir dann auch nicht mehr helfen!»
    Er verlässt mein Zimmer. Geht ins Wohnzimmer.
    Ich höre sie streiten. Geht das jetzt schon los? Bevor sie richtig eingezogen ist?
    Irgendwann höre ich eine Tür schlagen.
    Irgendjemand ist gegangen ...
     
    Am Morgen ist die Wohnung still. Ich wage kaum zu atmen. Noch weniger wage ich nachzusehen, ob jemand da ist. Heute frühstücke ich nicht. Eine schnelle Dusche, die Zä hne gründlicher geputzt als sonst.
    Ich verlasse das Haus. Und nehme die U-Bahn in die falsche Richtung.
    Mein Zahn tut weh. Meine rechte Gesichtshälfte ist immer noch seltsam taub.
    Heute geh ich noch nicht in die Schule. Heute werde ich eine echte Entschuldigung haben. Computergetippt. Dr. Kru ses Briefkopf ist mir sicher.
    Wenn er jetzt die Schule anruft und nachfragt, ob ich wirklich angekommen bin?
    Schon wieder fange ich an, mich in Komplikationen zu verstricken...
    Ob ich um zehn zurück sein kann? Einen Mann wie Martin M. darf man einfach nicht warten lassen.
    Ein grauer Mercedes biegt um die Ecke.
    Dr. Kruse!
    Es ist noch früh. Die Praxis öffnet erst um acht. Er ist der Erste heute. Er schließt die Tür auf. Ich folge ihm die Stufen hoch. Noch ist alles leer. Kein Wartezimmer, das überquillt. Noch kein unangenehmes Bohrergeräusch.
    Seine Engel in Weiß, die jungen Damen, die ihm die Folterwerkzeuge reichen, sind noch nicht zu sehen.
    «Sie wünschen?», sagt er.
    Er erkennt mich nicht.
    Wie lange ist es her, dass ich hier gewesen bin? Das letzte Mal ist Laura mit mir gegangen. Sie hat meine Hand gehalten. Ohne jemanden, der meine Hand hält, halte ich das hier nicht aus ...
    Hör auf zu spinnen, Zeno Zimmermann! Du bist schließlich siebzehn!
    Trotzdem! Je länger ich in diesen Räumen bin, desto unerträglicher wird mein Schmerz.
    «Ich hab wohl auf eine Mandelschale gebissen!», sage ich.
    «Gehen Sie noch einen Moment ins Wartezimmer!»
    Da sitze ich, höre das Ticken der Uhr an der Wand, von der Straße dumpf die Geräusche vorbeifahrender Autos.
    Und in mir dieser Schmerz, der unerträglich wird. Immer unerträglicher. Der Backenzahn pocht jetzt unüberhörbar. Die rechte Gesichtshälfte immer noch taub. Werden sie den Zahn ziehen?
    Und wird überhaupt jemals wieder Leben in diese verdammte rechte Gesichtshälfte zurückkommen?
    Hör auf zu spinnen, Zeno Zimmermann! Reiß dich zusammen !
    Ja! Ja!
    Langsam füllt sich das Wartezimmer. Gepflegte Frauen zwischen 40 und 60 wollen sich heute quälen lassen.
    Ich

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