Tuchfuehlung
ich nie zuvor getan habe. Ich weiß nicht, warum ich es tue. Ich muss es tun. Ich muss jetzt wissen, was sich hinter den beiden Türen verbirgt. Heute stecken Schlüssel im Schloss. Schlüssel mit ovalen Messinganhängern. Nie zuvor hab ich einen Schlüssel im Schloss hängen sehen. «Normal ist langweilig» steht auf einem. «Be happy» auf dem anderen. Ja, das passt zu ihnen. Die vier hier sind irgendwie anders. So normal wie normale Leute eben nicht. Und glücklich kommen sie mir auch vor. Viel, viel glücklicher jedenfalls als alle anderen Menschen, die ich kenne.
Ich geh das Risiko ein.
Bewege die Türklinke. Abgeschlossen. Ich dreh den Schlüs sel «Normal ist langweilig» und betrete den Raum. Ein Schlafzimmer! Mitten im Raum ein großes Messingbett, rote Bettwäsche aus Seide. An den Wänden Fotos im Großformat. Menschen, Menschen in Schwarz und Weiß. Nein, nicht einfach Menschen. Männer. Schöne Männer. Junge Kör per, schlank, makellos. Und nackt.
Mein Herz klopft, mir zittern die Hände. Ich schließe die eine Tür ab. Schließe die andere Tür auf. Vor dem Fenster ein Schreibtisch, an der Wand ein breites Bett, überall Pflan zen. In den Regalen Bücher, Bilder an den Wänden, nein, kei ne nackten Männer, ein großer Spiegel. Total gemütlich. Im Raum hängt dieser besondere Geruch. Sein Geruch.
Und wer wohnt hier sonst? Wer schläft hier?
Wer schläft in dem großen Messingbett?
Sophia steht hinter mir. Sie zieht mich ganz einfach aus dem Zimmer. Ich schließe hinter mir ab. «Be happy!» Ja.
Jeden Tag geh ich zum Bahnhof. Jeden Tag geh ich das Risiko ein, dass jemand mich sehen könnte. Jeden Tag such ich ihn. Und finde ihn nicht.
Ich fühl mich allein. Ja, trotz Sophia fühl ich mich mal wieder ziemlich allein. Und trotz meiner Nähmaschine, die meine Zeit ausfüllt.
Morgen ist der 6. Dezember. Nikolaus.
Ich habe Sophia einen roten Beutel genäht, ihn gefüllt mit Äpfeln und Nüssen, Gummibärchen und Smarties. Und mor gen früh backe ich einen Stutenkerl, so groß wie das Ofenblech.
Am Abend ist mein Vater jetzt wieder öfter zu Hause. Meistens sitzt er in seinem Zimmer. Am Computer. Die Kon takt linsenberaterin bügelt seine Hemden, sitzt auf dem gel ben Sofa, liest Zeitungen und Zeitschriften. Bücher liest sie nicht. Ab und zu stellt sie den Fernseher an. Sie freut sich, wenn sie mir begegnet. Beim Gang in die Küche oder ins Bad. Immer wieder der Versuch, mit mir ins Gespräch zu kommen. Aber ich gebe mir wenig Mühe, ihr entgegenzu kom men. Vielleicht könnte ich ihr sogar vertrauen, vielleicht könnte ich mich ganz einfach neben sie aufs gelbe Sofa setzen und zu ihr sagen: «Ich bin schwul!» Vielleicht würde sie vor Schreck das gelbe Sofa verlassen, vielleicht würde sie aber einfach nur sagen: «Ja, und?»
Ich habe keine Ahnung, ist sie jetzt schon bei uns eingezogen, oder sind das hier noch die ersten Eingewöhnungsschritte? Irgendetwas Zukunftsweisendes bahnt sich da jedenfalls an. Mir ist das inzwischen ziemlich egal. Was mir nicht egal ist, das ist ihre häufige Anwesenheit. Ich fühle mich beobachtet, kontrolliert.
Neuerdings schlafe ich wieder schlecht. Werde früh am Morgen wach, nass geschwitzt von meinen Träumen. Kann nicht wieder einschlafen. Werde erst wieder ruhiger, wenn ich höre, dass sie die Wohnung verlassen. Nein, viel passieren kann mir nicht. Ich könnte jederzeit erschrocken aufspringen und sagen:
« Mein Wecker hat nicht gekräht!», oder
«Mir geht ’ s heute nicht gut!», oder
«Ich bin krank!», oder
«Hab Halsschmerzen!», oder
« Kopfschmerzen!»
« Magenschmerzen!»
Trotzdem. Richtig ruhig bin ich nur, wenn sie nicht in der Wohnung sind.
6. Dezember!
Es hat geschneit. Dicke Wattefetzen fallen vom Himmel. Die Wiese hinter dem Haus ist weiß. Alles ist eingehüllt, zugedeckt, vergraben unter einer dicken Schneeschicht.
Vor meiner Zimmertür stehen meine hohen Lederstiefel.
Gefüllt. Seit sie weg ist, war Laura der Nikolaus. In diesem Jahr habe ich nicht damit gerechnet, dass er sich hier sehen lassen würde.
Womit hab ich das verdient?
Mein Vater hat mit der Füllung meiner Stiefel bestimmt nichts zu tun!
Die Kontaktlinsenberaterin?
Ein schwarzer Seidenschal, schwarzweiß gestreifte Taschen tücher, meine Lieblingsnüsse: Cashew, meine Lieblings schokolade: belgische Pralinen. Außerdem von meiner Lieb lingsautorin, nein, kein Kochbuch. Viel origineller. Ich hatte keine Ahnung, dass Hildegard von Bingen auch eine berühmte
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