Tuchfuehlung
Umweltschutzpapier.
Erst die 163 Stufen. Dann fällt mit ein blauer Schein entgegen.
Mir zittern die Hände.
Alex!
Der Brief ist kurz. Es geht ihm gut. Er meldet sich bald.
Ich bin enttäuscht. Keine Adresse! Alex ist unerreichbar für mich ...
Schon wieder überkommt mich Trauer, schon meldet sich der verdammte Schmerz, schon lauern die Gespenster ... Nein, Zeno Zimmermann!
Ich lege mir weihnachtliche Klänge in den CD-Player und stürze mich wie eine gute deutsche Hausfrau in die Vorbe reitungen für das Weihnachtsfest.
Ich packe mir die Kochbücher auf den Küchentisch und versinke. Bis mir vor lauter knusprigen Enten und Gänsen das Wasser im Mund zusammenläuft, und ich mir vier Spiegeleier in die Pfanne werfe.
Ich überprüfe die Vorräte, schreibe einen Einkaufszettel, hänge mir vier Leinenbeutel über die Schulter und lasse mich von meiner Liste leiten.
Das Wichtigste zuerst. Die deutsche Weihnachtsgans. Aber wo krieg ich die her? Jetzt, so spät noch, einen Tag, bevor mindestens die halbe Nation eine Gans verspeisen muss, weil sich sonst nicht die richtige Weihnachtsstimmung einstellt? Es soll auch eine ganz besondere sein, nicht einfach irgendeine. Eben keine aus der Gefriertruhe. Wer Hildegard gelesen hat, für den gibt es kein Zurück zur Mikrowelle mehr. In meinen Ofen kommt nur eine, die ein glückliches, freies Leben gelebt hat, die gesunde Dinkelkörner fressen durfte, ungespritzt, aus biologischem Anbau. Diese oder keine. Und wo finde ich sie? Im Bioladen «Pusteblume» oder bei Feinkost Schröder?
Immerhin brauche ich nach Angaben meiner Festlichen Kochideen vier Kilo.
In der «Pusteblume» ist es leer. Aber es gibt kein Fleisch, nur Fleischersatz, wie Tofuwürstchen und Soja-Gulasch.
Bei Feinkost Schröder ist es so voll wie auf dem Weihnachts markt. Kaviar, Champagner, Lachs und exotische Früch te wandern in Körbe und Taschen aus Leder.
Ich sehe Hasen und Fasane von der Decke baumeln. Gänse sehe ich nicht. Weder mit noch ohne Federn.
Irgendwann, nach einer Ewigkeit dann endlich ein erlösendes:
«Bitte?»
Ich sage meine Sätze. Und weil ich von Zeit zu Zeit wohl doch ein Glückskind bin, liegt sie dann vor mir. Federlos nackt, perfekt gerupft.
«120, bitte!»
Das wird ein teures Fest!
Meine Liste treibt mich weiter. Kartoffeln, Rotkohl, Käse und Oliven. Aber meine Stiefel wollen in eine andere Richtung. Hin zum Bahnhof. Dort ein Gewusel wie im Ameisenhaufen. Tausende hasten an mir vorbei.
Wieder läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Wieder schlägt die Gier durch. Aber heute verkneife ich mir die fettigen Bleigewichte. Ich muss ihn finden. Ich will ihn sehen ... Unbedingt!
Irgendwann gebe ich auf. Wo kann er sein? Kundschaft?
Zum Glück habe ich genug zu tun. Die restlichen Einkäufe. Weihnachtsstimmung in die Wohnung zaubern. Essen vor be reiten, das Telefon nicht vergessen. Es wird höchste Zeit.
Ich wähle ihre Nummer. Mein Herz klopft wie blöd. In meinem Hals steckt ein Kloß, so dick wie die Knödel, die morgen die Gans begleiten werden. Meine Hände zittern, als w ä r ich Alkoholiker in der Endstufe ... Es ist nicht besetzt, ich hole tief Luft und weiß doch, dass ich nichts sagen werde. Sobald sie sich meldet, werde ich den Hörer auflegen. Selbst mit ihr zu reden, das werde ich nicht schaffen. Jetzt klingelt es bereits das fünfte Mal. Ich werde ruhiger. Niemand zu Hause ... Dann ein leichtes, klickendes Geräusch und eine etwas blechern klingende Stimme im Hintergrund. Ich verstehe nichts. Aber ich erkenne sie genau. Sie ist es! Die Stim me meiner Mutter! Mir ist zum Heulen. So verdammt zum Heulen. Ich will den Hörer auflegen. Aber ich schaff es nicht. Und ich will es eigentlich auch nicht wirklich. Ich muss ihr sagen, dass ich nicht komme. Ich will jetzt wenigstens fair sein. Sie hätte sich gefreut.
Und jetzt enttäusche ich sie. Das weiß ich jetzt... jetzt, wo ich ihre Stimme höre ... Und was will ich?
Nein, Zeno! Du bleibst! Du hältst jetzt durch!
Meine Stimme ist leise, und ich fürchte, dass ich jeden Moment anfange zu heulen. Aber ich bleibe cool und sage meine Sätze.
«Hallo, ich bin ’ s, Zeno. Leider kann ich über Weihnachten nicht kommen. Vielleicht aber später. Ich melde mich noch ... Schönes Fest!»
Ich lege auf. Ich heule los. Warum fahre ich nicht?
Verdammt! In diesem Moment wünsche ich mir nichts sehn licher ... jetzt möchte ich in den Zug nach Amsterdam steigen...
Das Telefon! Dieses aufdringliche Jaulen, dieser
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