Tuchfuehlung
Gläser.
«Soll ich die Kiste ausmachen? Ihr seht so aus, als wolltet ihr lieber schlafen!», sage ich.
«Heute noch nicht!», sagt Bruno. «Vielleicht morgen!»
«Jetzt geht ’ s richtig los!», sagt Kuno.
«Kommt zu uns! Heute teilen wir alles mit euch! Das Fest der Liebe gibt es schließlich nur einmal im Jahr!», sagt Robert.
Er öffnet seinen Gürtel, er öffnet die Knöpfe seiner Hose...
«Los, Leon!», sagt er und fasst an sein Knie. «Das magst du doch! Komm!»
Leon zögert. Noch sitzt er in seinem Sessel...
«Und was ist mit dir, Zeno?», sagt er.
Aber ich bin schon aufgestanden, den Fluchtweg im Auge.
«Ich kümmere mich lieber um die Küche! Viel Spaß!»
Zum Glück ist die Küche weit. Uns trennen fünf Meter Flur und zwei Türen, die ich verschließe. Dann den härtesten Techno-Sound in den Recorder, damit ich nichts höre, wenn alle vier auf einmal stöhnen! Nein, danke! Das muss ich mir nicht antun! Dann doch lieber diesen Hardcore-Hammer.
Noch benebelt mich der Wein. In seinem Schutz räume ich die Küche auf. Ich tröste mich mit zarter Gänsebrust. Aber dieser Trost reicht nicht...
Irgendetwas nagt an mir. Erst wenig nur, dann immer mehr. Wenn ich jetzt nicht aufpasse, wird es mich auffressen ...
Ich kann nicht länger in der Küche bleiben. Ich muss jetzt wissen, was im Wohnzimmer passiert. Ich muss wissen, was Leon gerade tut.
Will ich es wirklich wissen ?
Es ist doch klar, was da gerade läuft. Die spielen natürlich nicht «Monopoly». Die liegen jetzt alle auf dem Teppich. Jeder mit jedem. In allen Positionen.
Und Leon? Leon sowieso. Leon erst recht. Wäre er sonst dort bei den anderen?
Eben! Er hätte dir natürlich auch in die Küche folgen können. Er hätte dir beim Aufräumen helfen können. Klar, wenn es ihm wichtig gewesen wäre.
Ihm war aber was anderes wichtiger! Kapier das endlich, Zeno Zimmermann!
Ja, ich hab ’ s kapiert. Aber was fang ich mit dieser Erkenntnis an? Mir die todsichere Mischung anrühren?
Nein, das ist er nicht wert. Das ist es nicht wert. Das nicht.
Zum Glück hab ich den Schlüssel. Dieser Schlüssel wird mich heute retten.
Eine Flasche Rotwein, falls ich nicht schlafen kann. Mehr brauche ich nicht.
Ich verlasse die Wohnung. 163 Stufen abwärts. Dann bin ich in Sicherheit.
Die Matratze in Sophias Zimmer wird mich retten.
Die Rotweinflasche muss ich nicht mehr öffnen.
Ich schlafe ein, noch bevor mich die Einsamkeit packt.
Als ich aufwache, ist es schon hell. Kurz nach eins. Zeit fürs Mittagessen.
Im Kopf ein stechender Schmerz, im Magen ein flaues Gefühl, ich sortiere meine Gedanken. Die begeistern mich nicht. Aber jetzt sind sie da, mit Trauer und Wut. Sie lassen sich nicht wegschicken.
Ob sie noch in der Wohnung sind?
Nur mit Mühe schaffe ich die 163 Stufen aufwärts, die Ohren auf Empfang bei jeder Stufe... Was soll ich tun, wenn sie noch ganz gemütlich in den Betten liegen? In meinem Bett?
Nein, ich werde nicht wie ein Einbrecher wieder rausschlei chen. Ich werde sie rauswerfen.
Trotzdem schleiche ich mich an, wie ein Juwelendieb im Film, schleiche mich in die eigene Wohnung, halte die Luft an, so lange, bis ich weiß, dass niemand mehr da ist.
Nichts erinnert daran, dass sie da gewesen sind. Nichts.
Hab ich das alles bloß geträumt?
Ich schlucke zwei Aspirin, koche Kaffee und lasse Bade wasser einlaufen.
Und dann?
Was tue ich mit all der Zeit, die vor mir liegt?
Was tue ich allein in dieser Stadt?
Warum müssen alle, die ich kenne, jetzt irgendwo auf einer dieser verdammten Sonneninseln sein?
Was bleibt mir?
New York und Amsterdam?
Das Elend geht wieder los... Aber ich will mich jetzt nicht besaufen. Ich bin froh, dass mein Schädel wieder einigermaßen klar ist. Aber auch das Bad tröstet mich heute nicht. Ob Leon heute am Bahnhof ist?
Warum interessiert mich das? Was will ich noch von ihm?
Mensch, Zeno, langsam wirst du wirklich völlig verrückt!
Damit gerade das nicht passiert, bringe ich den Müll in den Keller. Heute muss ich alle 163 Stufen mindestens dreimal rauf und runter laufen. Die unzähligen Flaschen erinnern mich, dass ich gestern nicht allein war ...
Die Bewegung tut mir gut. Vielleicht sollte ich mit Marathon anfangen?
Mit jeder Stufe spür ich weniger Trauer, aber immer mehr Wut.
Unermessliche Wut. Worauf? Auf alle! Auf alles! Die leeren Flaschen lagern im Keller, ich bin außer Puste, aber ich kann wieder Leben in mir fühlen.
Jetzt werde ich mir die Sportschuhe anziehen und durch
Weitere Kostenlose Bücher