Tuchfuehlung
erbärmliche Schrei aus der kleinen Kiste. Wer kann das sein? Wer will jetzt was von mir? Tränen wegwischen, Nase putzen, tief atmen...
Egal, wer es ist, Hauptsache, jemand denkt an mich. Vielleicht ja, vielleicht hat sie gerade ihr Band abgehört und ruft zurück?
«Zeno Zimmermann!», sage ich vorsichtig. Mir sitzt ein Kloß im Hals.
Mein Herz rast, meine Hände werden feucht. Ich wünsche mir so sehr jetzt ihre Stimme.
«Laura Zimmermann! Mit Weihnachtsgrüßen aus der Neuen Welt!»
Im Hintergrund jetzt der Kitsch fürs Ohr. «Jingle bells!»
Ich bin enttäuscht...
« Du sagst ja nichts. Hast du vielleicht eine andere Frau erwartet?»
«Ja, stell dir vor, hab ich!»
«Verrätst du mir, wer es ist?»
«Nein!»
«Wirklich nicht?»
«Nein, wirklich nicht!»
Schweigen über dem Atlantik. Schweigen zwischen Bruder und Schwester.
«Was ist los, Zeno? Hast du mir nichts mehr zu sagen?»
Diesen Bruder kennt Laura nicht.
«Momentan nicht!», sage ich.
Ich kann ihr nichts anderes sagen. Wirklich nicht. Es geht einfach nicht.
« Aber ich höre zu !», sage ich. « Erzähl mir was!»
Ich will nicht, dass sie jetzt anfängt zu bohren.
«Ist auch wirklich alles in Ordnung mit dir?», fragt sie. Jetzt zum hundertsten Mal.
«Wirklich!», sage ich. Zum hundertsten Mal.
«Übrigens!», sagt sie. «Ich finde es echt gut, dass du zu ihr fährst. Wann geht dein Zug?»
«Um 16.30 Uhr!», lüge ich.
Den Fahrplan wird sie nicht überprüfen können ...
Der 24. Dezember!
Die Glocken der Nicolaikirche holen Zeno Zimmermann erst mit ihrem Mittagsgeläute um zwölf aus dem Schlaf. Er reibt sich die Augen, schaut in den grauen Himmel, aus dem unbarmherzig der Regen fällt. Wie gut, dass es schon zwölf ist. Der Tag ist fast geschafft. Zeno Zimmermanns Stimmung ist alles andere als stabil. Er hat sich maßlos überfordert. Er hätte zu seiner Mutter reisen sollen. Zu dieser wunderbaren Mutter, die ihn liebt, zu ihrer neuen Familie, die ihn mögen wird ... stattdessen schleicht ihn unwiderruflich die Trauer an, schlägt die Einsamkeit zu... Noch ist es nicht zu spät, noch könnte er in den nächsten Zug steigen ... Aber nein, Zeno Zimmermann musste sich ja unbedingt Gäste einladen. Ja. Er wollte. Deshalb weg mit dem Selbstmitleid. Ab in die Küche. An die Arbeit, Zeno Zimmermann!
Das Radio nervt. Auf allen Sendern die Kunde von fröh licher Weihnachtszeit, stillen Nächten, grünen Tannenbäu men, lauschenden Engeln, himmelhoch jauchzender Fröh lich keit ... Ich schmeiß mir den härtesten Hardcore in den Recorder, dreh die Lautstärke bis zum Anschlag. Egal, ob mir jetzt die Ohren abfallen oder mir das Hirn platzt... Egal!
Eine Flasche Bordeaux.
Ein Glas für die Gans. Ein Glas für mich. Nein, ein Glas reicht uns nicht aus. Wir sind erst beim dritten Glas zufrieden.
Die Gans ruht im Ofen, ich ruhe auf dem gelben Sofa. Ich hoffe, dass die Zeit vergeht. Die Gans kann schon lange nicht mehr hoffen ...
Es ist erst acht!
Eine gefährliche Zeit! Da sitzt die halbe Welt unterm Weih nachtsbaum. Mit leuchtenden Augen unter Elektro lichtern, mit verklärtem Blick unter Bienenwachskerzen. Für eine kurze Zeit friedlich vereint. Die halbe Welt wartet auf das Christkind. Zeno Zimmermann wartet auf seine Gäste. Auf das Christkind wartet er nicht. Nichts erinnert in diesem Haus halt an das heilige Fest. Nur der verführerische Duft aus dem Ofen ... Ich hätte ihnen Pizza vorschlagen sollen! Zu spät!
Noch zwei Stunden! Wie kann ich die ohne Absturz überleben?
Ein Spaziergang durch die dunklen Straßen?
Aber den Blick durch die Fensterscheiben der anderen, die brennenden Kerzen, die Lichter der Weihnachtsbäume, den Blick würde ich heute nicht ertragen.
Mit jemandem reden, wirklich reden! Aber es gibt nieman den. Ich kenne niemanden, mit dem ich wirklich reden könn te.
Das Telefon. Es steht vor mir. Still und schweigend. Es lockt mich mit seinem Schweigen. Los, Zeno! Du weißt es doch selbst. Da ist jemand, der darauf wartet, dass du ihn anrufst. Dieser Mensch ist für dich da, er wird dich verste hen, ihm wirst du alles erzählen können. Alles!
Da liegt noch die Nummer!
Nein, verdammt!
Dann lieber noch ein Glas Wein. Eins für die Gans. Eins für mich. Die Gans hat jetzt genug. Der Rest ist für mich. Noch schnell den Tisch decken, bevor ich Teller und Gläser nicht mehr erkenne. Noch eine Stunde ... Was fang ich damit an?
Ich lasse mir Badewasser einlaufen.
Ich treibe in den Schaumbergen, schaukle
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