Tuchfuehlung
Liebe feiern werde ...
Die Busfahrerin rast durch die Nacht, haarscharf an parkenden Autos vorbei. Sie fährt schnell, viel zu schnell. Was treibt sie? Die Wut, die Trauer, so wie mich?
Meine Haltestelle. Und sie fährt einfach weiter, immer weiter.
Ich springe auf. Zu spät! Ich Idiot habe vergessen, auf den Halteknopf zu drücken.
30 Minuten Verspätung!
Mein Vater empfängt mich im Flur. Mit rotem Kopf.
«Erzähl mir bloß keine Geschichten!», sagt er, als ich ihm die Sache mit dem vergessenen Halteknopf erzählen will.
Ich liege im Bett, zieh mir die Decke über den Kopf, will schlafen, nichts als schlafen, den Abend vergessen, aber es funktioniert nicht. Zwar lauert irgendwo in mir eine dumpfe Müdigkeit, die sich nach schnellem Tiefschlaf sehnt, und doch ist da eine seltsame Wachheit. Der Kopf klar, wie frisch gewaschen, mit kaltem Wasser gespült. Ein Kopf wach und konzentriert, wie für eine Mathematikarbeit. Die Wirkung von XTC vielleicht? Aufputschend, anspornend, belebend? Ja, genau so fühl ich mich hinter der bleiernen Schwere von Müdigkeit. Was kann mich jetzt retten? Was kann mir den ersehnten Schlaf bringen?
Gelöschter Wein?
Mein Vater sitzt noch im Wohnzimmer. Ich höre Schüsse. Mein Vater liebt den Wilden Westen. Ich möchte ihm heute nicht noch einmal begegnen. Also erspar ich mir den Kochtopf und begnüge mich mit Rotwein pur.
Aber die Wirkung lässt auf sich warten. Und ich muss mir was einfallen lassen, damit dieser wache Kopf nicht in elende Grübeleien abstürzt. Was schenke ich Sophia zu Weih nachten? Was könnte ich für sie machen? Eine Hand puppe vielleicht? Aus Plüsch? Ich setze mich an meinen Schreibtisch, mit Kohlestift und Skizzenblock. Irgendwann habe ich mich entschieden. Keine Katze, kein Krokodil, kein Affe, kein Hase, sondern ein Bär. Mit dem Gedanken, dass ich am Montag nicht vergessen darf, dunkelbraunen, wie chen Teddystoff zu kaufen, schlafe ich endlich ein.
Drei dumpfe Schläge sagen mir, dass es spät genug ist.
Noch vier Tage, und mein Vater fliegt mit Beate Minnerup nach Ibiza. Das erste Beziehungstief hat sich verzogen. Momentan lassen sie sich auf einer Wolke neuer Verliebtheit treiben.
Noch eine Woche, und es ist wieder mal Weihnachten. Noch zwei Wochen, und dieses Jahr hat endlich ein Ende. Noch drei Wochen, und ich soll mich hinter Klostermauern wiederfinden.
Mir bleibt wenig Zeit zum Nachdenken. Mein Tag ist voll gestopft. Mit Schule, Nachhilfe, Sophia-Dienst und Hausauf gaben. Frau Dr. Augustin hat mich noch nicht retten können. Und mein Vater hat sich noch nicht bewegen lassen, die An meldung für das Internat zurückzunehmen.
Bis zum 8. Januar muss mir noch irgendetwas einfallen...
Heute ist die Premiere von Martin M. ’ s Stück. Vorgestern hat er seine Sachen geholt und mir eine Karte gebracht. Aber ich habe einen guten Grund, nicht hinzugehen. Sophia braucht einen Babysitter. Schließlich hat er auch Markus, Michael und Vera eingeladen, einschließlich der Premierenfeier. Es wird eine lange Nacht. Auch für mich. Auf dem schwarzen Ledersofa im Wohnzimmer.
« Schade!», sagt er. Und er sagt es so, dass ich ihm glaube. Obwohl ich nicht weiß, warum. Was hat er von mir? Was findet er an mir? Zeno Zimmermann ist nicht nur völlig un bedeutend, er ist dazu noch sonderschulreif. Was also ist es?
«Sophia könnte auch zu ihrer Oma gehen. Immerhin hat sie drei zur Auswahl!», schlägt er vor.
«Sie hat sowieso schon viel zu viele Bezugspersonen!», sage ich. « Das ist nicht gut für sie!»
Er schaut mich durch seine winzigen Brillengläser an, forschend, fragend. Dann schüttelt er den Kopf.
«Großer Pädagoge auch noch? Das ist ja kaum auszuhalten!»
Jetzt grinst er. Wieder sein unverschämtes Grinsen.
Dann echtes Bedauern. Und noch einmal: «Schade! Wirk lich!»
Warum meide ich ihn? Warum entziehe ich mich ihm immer wieder? Weil er mir gefährlich werden könnte? Hör auf zu spinnen, Zeno Zimmermann! Denk an was anderes!
Bis zum Abend ist noch Zeit.
Genügend Zeit für einen Gang zum Hauptbahnhof?
Ich wollte ihn meiden, diesen Ort. Und ihn wollte ich sowieso meiden, nie wieder sehen.
Und doch zieht er mich immer wieder an. So wie er mich auch abstößt. Ich weiß nicht, was das ist.
Heute muss ich nicht warten, heute muss ich ihn nicht suchen, heute seh ich ihn dort, wo ich ihn das allererste Mal gesehen habe.
«Na endlich!», sagt er. «Wo warst du neulich? Ich hab dich gesucht!»
«Davon hab ich nichts gemerkt!», sage
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