Tür ins Dunkel
Meereswellen. Sheldon Tolbeck rannte in die Nacht hinein. Auf der weißen Bergwiese versank er stellenweise bis zu den Knien im Schnee. Er wirbelte Schneewolken auf, die zusammen mit seinen Atemwolken wie Gespenster zerstoben.
Aus der Hütte drangen Renseveers Schreie. Die klare, eiskalte Luft trug den Schall in die Ferne, und die Gebirgswelt sorgte für Echos, und auch diese Echos hallten wider, so daß die Schreie sich ins Unendliche vervielfältigten. Man hätte glauben können, die Pforten der Hölle hätten sich aufgetan. Diese gräßlichen Schreie versetzten Tolbeck in noch größere Panik, und er rannte, als wäre der Teufel ihm dicht auf den Fersen.
Er trug Stiefel, aber keinen Mantel, und anfangs war der eisige Wind sehr schmerzhaft und stach wie tausend Nadeln. Doch diese Nadeln hatten nach kürzester Zeit eine ähnliche Wirkung wie Betäubungsspritzen. Er hatte sich erst 50 oder 60 Meter von der Hütte entfernt, als sein Gesicht und seine Hände schon fast ohne Empfindung waren, und wenig später hatte die Kälte auch sein Flanellhemd und seine Jeans durchdrungen, und das Taubheitsgefühl hatte seinen ganzen Körper erfaßt. Er wußte, daß dieser gnädige Zustand nur wenige Minuten anhalten würde, daß er nur auf einem Schock beruhte. Bald würde der Schmerz zurückkehren, und die Kälte würde wie eine Krabbe durch seine Knochen kriechen und mit ihren eisigen Scheren Stücke seines Marks ausreißen.
Er rannte ziellos dahin, getrieben von maßlosem Entsetzen, und fand sich in einem Wald wieder. Riesige Nadelbäume verschiedenster Art ragten um ihn herum empor; sie standen so dicht, daß das bleiche, kalte Mondlicht nur an wenigen Stellen den Boden zu erreichen vermochte. Diese vereinzelten Mondstrahlen wirkten wie schwache Suchscheinwerfer und erzeugten eine unwirkliche, gespenstische Atmosphäre, die von der Finsternis ringsum noch verstärkt wurde.
Tolbeck hastete durch den Wald, die Hände tastend nach vorne ausgestreckt. Er rannte gegen Bäume, stolperte über Wurzeln und Steine. Er glitt an einer abschüssigen vereisten Stelle aus, fiel auf sein Gesicht, kam wieder auf die Beine, eilte weiter. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit, und er sah kaum, wohin er trat, doch er legte ein scharfes Tempo vor, denn Renseveers Schreie waren vor einigen Minuten verstummt, und das bedeutete, daß der Geist seine Aufmerksamkeit nunmehr ihm, Tolbeck, zuwenden konnte, Er stolperte, stürzte, schürfte sich die Knie auf, erhob sich, rannte weiter. Er zwängte sich durch eisverkrustetes Unterholz, wurde zerkratzt und von Zweigen gepeitscht. Er riß an einem tiefhängenden Ast die Stirn auf, und das Blut, das ihm über das Gesicht lief, fühlte sich auf seiner halb erfrorenen Haut wie glühende Lava an. Er rannte weiter. Er kletterte einen steilen Abhang empor, klammerte sich an Büschen und Felsvorsprüngen fest. Seine Hände waren so kalt und steif, daß er die Hautabschürfungen nicht spürte, die er sich bei dieser Kletterpartie zuzog. Oben angelangt, ließ er sich völlig erschöpft zu Boden fallen, trotz aller Panik außerstande, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen.
Hier oben, wo die Bäume weniger dicht standen, fegte wieder ein eisiger Wind, und der Schnee glitzerte im Mondlicht. Tolbeck versuchte mit wenig Erfolg, Atem zu schöpfen, dann verkroch er sich unter einem schützenden Granitvorsprung und starrte auf den Hohlweg hinab, den er erklommen hatte.
Nur der Wind brauste in den Ästen der Nadelbäume und heulte in den Felsspalten. Sonst herrschte völlige Stille.
Das bedeutete allerdings nicht, daß der Geist ihn nicht verfolgte. Vielleicht war er schon dort unten, schlich sich aus dem Wald heran - aber er würde sich völlig lautlos nähern.
Nur die Äste bogen sich im Wind, und gelegentlich wurde Schnee aufgewirbelt. Sonst bewegte sich nichts.
Obwohl er in die Dunkelheit hinabspähte, wußte Tolbeck, daß es sinnlos und töricht war, nach seinem Feind Ausschau zu halten, denn er würde ihn nicht sehen können. Der Geist hatte keine Substanz, nur Kraft. Er hatte keine Form, nur Energie. Er hatte keinen Körper, nur Bewußtsein und Willen... und einen wahnsinnigen Durst nach Rache und Blut.
Tolbeck war sich im klaren darüber, daß er dieses Wesen mit seinen Sinnen nicht wahrnehmen konnte. Er würde seiner Präsenz erst gewahr werden, wenn es ihn angriff.
Und wenn es ihn fand, war er unweigerlich verloren, denn dieser Macht gegenüber war er völlig hilflos.
Doch
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