Tür ins Dunkel
Vermutungen? Warum ist es so wichtig, daß sie wach bleibt?«
»Es würde zuviel Zeit in Anspruch nehmen, wenn ich Ihnen das jetzt erklären wollte«, log Dan. Solange er sich nicht hundertprozentig sicher war/die Wahrheit entdeckt zu haben, wollte er sie nicht beunruhigen - wobei >beunruhigen< ein sehr milder Ausdruck war. Es wäre ein gewaltiger Schock für sie zu erfahren, welchen Verdacht er hegte. »Ich muß jetzt los und herausfinden, ob Boothe sich noch in der Stadt aufhält. Versuchen Sie einfach, Melanie wachzuhalten.«
»Wenn sie schläft oder sich in einem tiefen katatonischen Zustand befindet, ist sie verwundbarer, habe ich recht?« sagte Laura. »Ja, irgendwie ist sie dann verwundbarer. Vielleicht... vielleicht hat >Es< ein Gespür dafür, wann sie schläft. Ich meine... als sie vergangene Nacht in dem Motelzimmer schlief, wurde es kalt und etwas kam. Und gestern abend in meiner Küche, als das Radio... wie besessen war... und als der Blumenwirbel eindrang... da hatte Melanie die Augen geschlossen... Sie schlief nicht, aber sie war noch abwesender als die meiste übrige Zeit. Erinnern Sie sich daran, Earl? Sie saß mit geschlossenen Augen da und schien den schrecklichen Lärm, den das Radio machte, überhaupt nicht wahrzunehmen. >Es< weiß irgendwie, wann sie am verletzlichsten ist, und deshalb wird >Es< einen solchen Augenblick ausnutzen, um sie zu holen. Ist es das? Soll ich sie deshalb um jeden Preis wachhalten?«
»Ja«, schwindelte Dan. »Das ist in etwa die Lage, Und jetzt muß ich mich wirklich sputen, Laura.« Er hätte zum Abschied ihr Gesicht streicheln und ihre Mundwinkel küssen mögen, aber da er kein Recht hatte, seine Gefühle so offen zu zeigen, wandte er sich an Earl: »Paß gut auf die beiden auf.«
»Ich verspreche dir, sie wie meinen Augapfel zu hüten.« Dan stieg aus, schlug hinter sich die Tür zu und rannte durch den Regen zu seiner Dienstlimousine, die er auf der anderen Seite der Imbißstube geparkt hatte. Als er losfuhr, sah er, daß Earl sich bereits auf der Straße befand Er fragte sich, ob er die drei jemals wiedersehen würde Delmar, Carrie, Cindy Lakey... Die verhaßten Erinnerungen an sein Versagen drängten sich schon wieder auf. Delmar, Carrie, Cindy Lakey... Laura... Melanie...
Nein! Diesmal würde er nicht versagen. Vielleicht war er der einzige Polizeibeamte in dieser Stadt, der einzige Mensch in dieser Stadt und im Umkreis von tausend Kilometern, der imstande war, zum Kern dieses bizarren Falles vorzustoßen und ihn eventuell erfolgreich abzuschließen. Was ihn dazu befähigte, war seine Vertrautheit mit Morden und Mördern. Er wußte darüber mehr als die meisten anderen Menschen, weil er soviel darüber nachgedacht hatte -und weil Morde nicht nur in seinem Beruf eine so wichtige Rolle spielten, sondern auch in seinem Privatleben. Er war schon vor langer Zeit zu der Erkenntnis gekommen, daß jeder Mensch zu einem Mord fähig war; nur deshalb war es ihm möglich, seinen schrecklichen Verdacht, den Earl und Laura vermutlich entsetzt von sich gewiesen hätten, als eine durchaus vorstellbare Möglichkeit in Betracht zu ziehen und sich darauf einzustellen. Delmar, Carrie, Cindy Lakey. Damit endete die Serie seiner Fehlschläge. Doch obwohl er sich nach Kräften bemühte, optimistisch zu bleiben, entsprach dieser düstere graue Regentag im Grunde seiner seelischen Verfassung. Der Film von Spielberg war einige Wochen vor Weihnachten angelaufen, aber auch drei Monate später sorgte er an einem normalen Werktagnachmittag für einen halbvollen Saal. Fünf Minuten vor Beginn der Vorstellung wurde im Publikum viel geredet und gelacht. Laura, Melanie und Earl nahmen die drei äußeren Sitze in einer der mittleren Reihen ein. Die beiden Erwachsenen hatten Melanie in ihre Mitte genommen, und das Kind starrte ausdruckslos auf die riesige leere Leinwand, die Hände schlaff auf dem Schoß, stumm und regungslos aber es schien zumindest wach zu sein. Obwohl es im Dunkeln schwieriger sein würde, das Mädchen zu beobachten, wünschte Laura, daß der Film beginnen sollte, denn sie hatte im Licht das unangenehme Gefühl, schutzlos den Blicken all dieser Fremden ausgeliefert zu sein. Sie wußte, daß ihre Sorge, hier von den falschen Leuten erspäht und bedroht zu werden, töricht war. Das FBI, korrupte Polizeibeamte, Palmer Boothe und seine Helfershelfer würden bestimmt nicht auf die Idee kommen, ausgerechnet in einem Kino nach Melanie zu suchen. Wenn sie überhaupt noch irgendwo
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