Tür ins Dunkel
selbst, und sie hätte ihm weitere Ausführungen gern erspart, aber sie mußte alles wissen, und es war seine Aufgabe, es ihr zu erzählen.
Er räusperte sich noch einmal und beendete seinen Satz: »Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, daß keine orale Kopulation stattgefunden hat.« Ein tierischer Klagelaut entrang sich Lauras Brust. Haldane griff nach ihrem Arm, und sie lehnte sich einen Moment lang an ihn an. »Ruhig«, sagte er. »Sie dürfen sich nicht unnötig aufregen. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob es sich tatsächlich um Melanie handelt.«
»Es ist Melanie«, widersprach sie heftig. »Ich bin sicher, daß es Melanie ist.« Sie wollte ihre Tochter sehen, sie konnte es kaum erwarten, sie zu sehen. Doch gleichzeitig hatte sie Angst, die Tür zu öffnen und das Zimmer zu betreten. Hinter dieser Schwelle lag ihre Zukunft, und sie befürchtete, daß es eine Zukunft sein könnte, die nichts anderes als emotionalen 5chmerz und Verzweiflung bereithielt. Eine Krankenschwester eilte vorbei, verlegen jeden Blickkontakt meidend, wodurch Lauras Eindruck einer Tragödie sich nur noch verstärkte.
»Es tut mir sehr leid«, sagte Pantangello. Er nahm seine Hände aus den Taschen, schien sie trösten zu wollen, hatte aber offenbar Angst, sie zu berühren. Statt dessen begann er geistesabwesend mit dem Stethoskop zu spielen, das um seinen Hals hing.
»Hören Sie, vielleicht hilft es Ihnen ein klein wenig... nun ja, ich persönlich glaube, daß sie nicht mißbraucht wurde. Ich kann es nicht beweisen. Ich fühle es einfach. Außerdem kommt es sehr selten vor, daß ein Kind mißbraucht wird, ohne daß es irgendwelche Verletzungen - Quetschungen, Schnittwunden etc. - erleidet. Die Tatsache, daß Ihre Tochter völlig unverletzt ist, deutet darauf hin, daß kein Sittlichkeitsverbrechen begangen wurde. Wirklich, darauf würde ich jede Wette eingehen.« Er lächelte ihr zu. Dieses Lächeln fiel allerdings sehr kläglich aus.
»Ich würde ein Jahr meines Lebens darauf wetten.« Laura kämpfte mit Tränen, während sie fragte: »Aber warum irrte sie nackt auf der Straße umher, wenn sie nicht vergewaltigt wurde?« Die Antwort fiel ihr ein, noch bevor sie ihren Satz beendet hatte, und gleichzeitig kam auch Dan Haldane auf des Rätsels Lösung. Er rief: »Sie muß in der Deprivationskammer gewesen sein, als der Mörder das Haus betrat. Deshalb war sie nackt.«
»Deprivationskammer?« fragte Pantangello mit gerunzelter Stirn.
Ohne ihn zu beachten, sagte Laura aufgeregt zu Haldane: »Vielleicht wurde sie deshalb nicht wie alle anderen ermordet. Vielleicht wußte der Mörder nicht, daß sie im Tank war.«
»Durchaus möglich«, stimmte Haldane zu. Laura schöpfte neue Hoffnung. »Sie muß aus dem Tank herausgestiegen sein, nachdem der Mörder das Haus verlassen hatte. Wenn sie die Leichen gesehen hat... und das viele Blut... das muß ein derart traumatisches Erlebnis gewesen sein, daß es ihren Betäubungszustand erklären würde.« Pantangello warf Haldane einen neugierigen Blick zu. »Das muß ein merkwürdiger Fall sein«, meinte er. »Sehr merkwürdig«, bestätigte der Detektiv. Laura hatte plötzlich keine Angst mehr vor der geschlossenen Tür zu Melanies Zimmer. Sie machte einen Schritt vorwärts und wollte sie auf stoßen. Dr. Pantangello hielt sie zurück, indem er ihr eine Hand auf die Schulter legte. »Warten Sie. Da ist noch etwas.« Der junge Arzt suchte nach den richtigen Worten, um ihr eine schlimme Nachricht möglichst schonend beizubringen. Daß es sich um etwas Beunruhigendes handelte, konnte Laura ihm am Gesicht ablesen, denn er war noch viel zu unerfahren, um eine ausdruckslose Miene professioneller Souveränität zur Schau tragen zu können. »Der Zustand Ihrer Tochter...«, stammelte er. »Ich habe ihn vorhin als >Trance< bezeichnet, aber das stimmt nicht ganz. Er ist fast katatonisch. Er hat große Ähnlichkeit mit dem Verhalten autistischer Kinder, wenn sie eine ihrer besonders passiven Phasen haben.«
Lauras Mund war so trocken, als hätte sie die vergangene halbe Stunde damit verbracht, Sand zu essen. Und sie nahm auch einen metallischen Geschmack auf der Zunge wahr. Sie wußte, was das war: Angst. »Sprechen Sie es ruhig aus, Dr. Pantangello. Sie brauchen nichts zu beschönigen. Ich bin selbst Ärztin. Genauer gesagt, Kinderpsychologin. Was auch immer Sie mir zu sagen haben - ich werde es verkraften.«
Seine Worte überstürzten sich jetzt, so als wollte er es möglichst rasch hinter sich
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