Tür ins Dunkel
Sie traf ihn auf dem Korridor vor Melanies Zimmer, und nachdem sie ihm die Situation genauer erklärt hatte, fragte sie: »Ich nehme an, daß Sie bewaffnet sind?«
»O ja, Madam«, antwortete er. »Gut.«
»Ich bleibe bis Mitternacht bei Ihnen«, sagte Earl. »Danach löst mich ein Kollege ab.«
»Ausgezeichnet.« Laura holte Melanie aus dem Zimmer, und Earl beugte sich zu dem Kind hinab. »Was für ein hübsches kleines Mädchen du bist!«
Melanie sagte nichts. »Weißt du«, fuhr er fort, »du erinnerst mich ganz stark an meine Schwester Emma.« Melanie starrte durch ihn hindurch. Earl nahm die schlaffe Hand der Kleinen zwischen seine Pranken und redete unverdrossen weiter, so als trüge Melanie ihrerseits etwas zur Konversation bei.
»Emma ist neun Jahre jünger als ich und geht seit kurzem auf die High-School. Sie hat zwei Kälber aufgezogen, die prämiert wurden. Sie hat überhaupt schon viele Preise gewonnen. Weißt du etwas über Kälber? Magst du Tiere? Kälber sind klug, und sie haben freundliche Gesichter. Ich wette, daß du gut mit ihnen umgehen könntest, genau wie Emma.« Als Laura sah, welche Mühe sich Earl mit Melanie gab, fand sie ihn noch sympathischer als zuvor. »Weißt du, Melanie«, sagte er, »du brauchst keine Angst mehr zu haben. Okay? Ich bin jetzt dein Freund, und solange der gute alte Earl dein Freund ist, wird niemand dir auch nur ein Haar krümmen.«
Das Mädchen schien von ihm überhaupt keine Notiz zu nehmen. Er ließ ihre Hand los, und ihr Arm fiel wie bei einer Marionette hinab. Earl stand auf und rollte mit den Schultern, um sein Sakko zurechtzurücken. Er sah Laura fragend an. »Sie sagen, daß ihr Vater für ihren Zustand verantwortlich ist?«
»Er ist einer der Verantwortlichen, ja.«
»Und er ist... tot?«
»Ja.«
»Aber einige andere sind noch am Leben?«
»Ja.«
»Ich würde gern einen von ihnen treffen. Mit ihm ein paar Takte reden. Unter vier Augen. Nur er und ich. Das täte ich für mein Leben gern«, sagte Earl. Die Härte in seiner Stimme und das Glitzern seiner Augen verrieten seinen Zorn und ließen ihn plötzlich gefährlich erscheinen. Auch das war Laura sehr sympathisch. »Nun, Madam... Dr. McCaffrey - das ist doch die korrekte Anrede, nicht wahr? -, wenn wir die Klinik verlassen, gehe ich voraus. Ich weiß, daß das nach der Etikette falsch ist, aber von nun an werde ich meistens einige Schritte vor Ihnen her gehen, um festzustellen, ob die Luft rein ist.«
»Ich bin sicher, daß niemand am hellichten Tag auf uns schießen oder uns sonstwie angreifen wird«, sagte Laura. »Vielleicht nicht. Trotzdem werde ich vorausgehen.«
»Okay.«
»Wenn ich Ihnen etwas befehle, so tun Sie es bitte, ohne Fragen zu stellen.« Sie nickte. »Durchaus möglich, daß ich meine Anweisungen nicht laut brülle, sondern Ihnen in ganz ruhigem Ton sage. Sie sollen sich auf den Boden werfen oder wegrennen, so schnell Sie können. Vielleicht sage ich es ganz beiläufig, so als würde ich nur eine Bemerkung über das schöne Wetter machen. Sie müssen also gut aufpassen.«
»Ich verstehe.«
»Gut. Ich bin sicher, daß alles gut gehen wird. Nun, sind die beiden Damen bereit, nach Hause zu fahren?«
Sie gingen auf den Aufzug zu, der sie ins Erdgeschoß und zum Ausgang bringen würde. In den vergangenen sechs Jahren hatte sich Laura tausendmal den Tag ausgemalt, an dem sie Melanie nach Hause bringen würde. Sie hatte immer geglaubt, es würde der glücklichste Tag ihres Lebens sein. Nicht einmal im Traume wäre ihr eingefallen, daß ein Leibwächter mit von der Partie sein würde.
13
Im Archiv des Central ließ sich Dan Haldane zwei Akten geben und ging damit zu einem der kleinen Schreibtische an der Wand. Der Name auf der ersten Akte lautete Ernest Andrew Cooper. Er war anhand von Fingerabdrücken als das dritte Mordopfer in jenem Haus in Studio City identifiziert worden. Cooper war 37 Jahre alt und 1,80 m groß gewesen und hatte 160 Pfund gewogen. Die Akte enthielt auch Fotos von ihm, aber sie waren für Dan völlig nutzlos, denn das Gesicht des Ermordeten war buchstäblich zu blutigem Brei geschlagen worden. Dan konnte sich nur auf die Fingerabdrücke verlassen. Cooper hatte in Hancock Park gelebt, einem Millionärs-viertel. Er war Aufsichtsratsvorsitzender und Hauptaktionär von Cooper Softech gewesen, einer erfolgreichen Firma für Computer-Software. Er war zweimal innerhalb der Stadtgrenzen von Los Angeles festgenommen worden, beide Male wegen Trunkenheit am
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