Tür ins Dunkel
ein neues graues Zimmer zu sperren. Und doch mußte Laura sich eingestehen, daß sie diesen Verdacht gehegt hatte, einen ganz leichten Verdacht tief im Innern, auf der Ebene des Unterbewußtsems. Sie mußte sich davor hüten, Symptome von Verfolgungswahn zu entwickeln. Sie wußte nicht, wer ihre Feinde waren: Sie verbargen ihre Gesichter. Deshalb neigte sie jetzt dazu, jeden Menschen zu verdächtigen, Verschwörungstheorien aufzustellen, die schließlich die ganze Welt einschließen könnten, nur sie selbst und Melanie ausgenommen. Sie machte Kaffee für Earl und sich und für Melanie heiße Schokolade, die sie ins Arbeitszimmer trug, wo das Mädchen auf sie wartete. Sie hatte sich im St. Mark's für unbestimmte Zeit beurlauben lassen, und ein Kollege würde ihre Privatpatienten betreuen, zumindest eine Woche lang. Sie wollte noch an diesem Nachmittag mit Melanies Therapie beginnen, aber nicht im Wohnzimmer, wo sie beide durch Earls Gegenwart abgelenkt werden könnten. Das Arbeitszimmer war klein, aber gemütlich. Zwei Wände wurden vom Boden bis zur Decke von Bücherregalen eingenommen, die sowohl mit medizinischer und psychologischer Fachliteratur als auch mit Belletristik gefüllt waren. Die übrigen Wände waren mit beiger Grastapete ausgestattet. Zwei Drucke von Delacroix dienten als Blickfang. Ein dunkler Fichtenholz-Schreibtisch mit einem gepolsterten Stuhl, ein Schaukelstuhl, ein smaragdgrünes Sofa mit vielen Kissen und zwei Beistelltische bildeten die Einrichtung. Die beiden Messinglampen auf den Tischchen spendeten weiches bernsteinfarbenes Licht. Earl hatte die smaragdgrünen Vorhänge an den zwei Fenstern geschlossen. Melanie saß auf dem Sofa und starrte ihre Hände an, die mit den Innenflächen nach oben auf ihrem Schoß lagen. »Melanie.«
Das Mädchen blickte nicht auf.
»Liebling, ich habe dir heiße Schokolade gebracht.«
Als Melanie noch immer keine Reaktion zeigte, setzte Laura sich neben sie auf das Sofa. Den Becher Kakao in der einen Hand, legte sie die andere unter Melanies Kinn und hob ihren Kopf an. Die Augen des Mädchens waren beängstigend leer und ausdruckslos. Es gelang Laura nicht, einen Blickkontakt mit ihr herzustellen.
»Ich möchte, daß du das trinkst, Melanie«, sagte sie. »Es ist gut. Es wird dir schmecken. Ich weiß, daß es dir schmecken wird.« Sie hielt den Becher an die Lippen des Mädchens.
Sie mußte Melanie noch ein Weilchen gut zureden, bevor das Kind von dem Getränk nippte. Einige Tropfen rannen ihr das Kinn hinab; Laura wischte sie mit einer Papierserviette ab und ermutigte ihre Tochter, den nächsten Schluck zu trinken. Schließlich nahm Melanie ihre zarten Händchen vom Schoß und umfaßte den Becher, so daß Laura ihn loslassen konnte. Jetzt schlürfte Melanie die heiße Schokolade schnell, gierig. Als der Becher leer war, leckte sie sich die Lippen. In ihren Augen war für ganz kurze Zeit ein Funke Leben zu erkennen, und eine Sekunde lang - aber nicht länger -traf sich ihr Blick mit dem ihrer Mutter. Sie starrte nicht wie bisher durch Laura hindurch, sondern blickte sie richtig an, und diese flüchtige Kontaktaufnahme wirkte auf Laura geradezu elektrisierend. Unglückseligerweise zog sich Melanie hastig wieder in ihre geheime innere Welt zurück, und ihre Augen wurden wieder leer und glasig; doch Laura wußte jetzt immerhin, daß das Kind aus dem Exil zurückkehren konnte, in das es sich geflüchtet hatte, und daß deshalb eine Chance - wenn auch vielleicht nur eine geringe - bestand, es nicht nur für eine Sekunde, sondern für immer in die reale Welt zurückzuführen. Sie nahm Melanie den leeren Becher ab, stellte ihn auf eines der Tischchen, setzte sich seitlich auf das Sofa und schaute ihrer Tochter ins Gesicht. Sie griff nach Melanies Händen und sagte: »Liebling, es ist so lange her, und du warst noch so klein, als wir uns zuletzt sahen. Vielleicht bist du dir nicht sicher, wer ich bin. Ich bin deine Mutter, Melanie.«
Das Madchen reagierte nicht.
Laura redete sanft und beruhigend weiter, weil sie sicher war. daß Melanie sie verstehen konnte, zumindest auf der Ebene des Unterbewußtseins. »Ich habe dich auf die Welt gebracht, weil ich mir dich so sehr wünschte. Du warst ein so süßes Baby, so hübsch, so unkompliziert. Du hast früher laufen und sprechen gelernt, als ich erwartet hatte, und ich war so stolz auf dich. Wahnsinnig stolz. Und dann wurdest du mir geraubt, und während du fort warst, w ünschte ich mir nichts so sehnlich, wie dich
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