Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
AKP -Regierung, durch die Annäherung an die EU privates ausländisches Kapital ins Land zu holen und damit auch die Abhängigkeit vom IWF wieder zu verringern, ging voll auf. Die Türkei ist mit ihren 75 Millionen überwiegend jungen Menschen ein attraktiver Markt, und die Türken sind eifrige Konsumenten. Mit dem EU -Beitrittsprojekt einerseits und der weltweit guten Konjunktur andererseits waren die Bedingungen für eine kapitalistische Erfolgsgeschichte geschaffen.
Doch wie bei vergleichbaren Entwicklungen, die auf einer strikt neoliberalen Politik aufbauen, sind die Erfolge einer solchen Politik sehr ungleich verteilt. Die glänzenden makroökonomischen Daten und der sichtbar steigende Wohlstand im türkischen Speckgürtel rund um das Marmarameer, von Istanbul über Izmit bis Bursa, täuschen darüber hinweg, dass die Mehrheit der Bevölkerung an dem Aufschwung kaum bis gar nicht beteiligt ist. Der Boom ist auf den Dienstleistungssektor in den großen westlichen Städten und auf die Exportindustrie beschränkt. Zwar hat der Automobilsektor enormen Auftrieb, fast alle großen Konzerne produzieren mittlerweile mit eigenen Werken in der Türkei und beliefern von hier aus, wie beispielsweise Toyota, auch den europäischen oder nahöstlichen Markt, doch dieser Ausbau industrieller Arbeitsplätze kann den ständigen zusätzlichen Ansturm auf den Arbeitsmarkt nicht einmal annähernd absorbieren. Durch die bereits genannte Technisierung in der Landwirtschaft und die hohe Geburtenrate kommen jedes Jahr zusätzlich eine halbe Million Menschen auf den Arbeitsmarkt.
Wobei Arbeitsmarkt in der Türkei doch noch immer etwas ganz anderes bedeutet als in Deutschland. Von 75 Millionen Menschen haben rund 20 Millionen einen festen Job. Doch höchstens die Hälfte davon hat auch tatsächlich ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis. Weil die Lohnnebenkosten sehr hoch sind, arbeiten beinahe alle Firmen mit möglichst vielen nicht versicherten Schwarzarbeitern. Der größte Teil aller Jobs in Familienbetrieben findet sowieso auf dem unregulierten Arbeitsmarkt statt. Die in Deutschland erst in den letzten Jahren berühmt gewordenen prekären Arbeitsverhältnisse sind in der Türkei die Regel.
Selbst nach den offiziellen Angaben des staatlichen Statistischen Instituts leben knapp 13 Millionen von insgesamt 75 Millionen unter der Armutsgrenze, und rund 500000 Menschen haben nicht genug zu essen, sie leiden regelrecht unter Hunger. Obwohl es natürlich auch in den Metropolen in der Westtürkei Armut gibt, ist das Wohlstandsgefälle von West nach Ost beträchtlich. Während in den reichsten Provinzen, im Großraum Istanbul, in Kocaeli, Bursa, Izmir und Aydin, das Durchschnittseinkommen bei fast 50 Prozent des Durchschnittseinkommens innerhalb der EU liegt (das ist mehr als in fast allen osteuropäischen EU -Ländern), kommt der Osten nur auf 10 Prozent des Durchschnittseinkommens der EU .
Leider ist auch nicht damit zu rechnen, dass durch gewerkschaftliche Organisation die Lebensbedingungen am unteren Ende der türkischen Gesellschaft in absehbarer Zeit verändert werden können. Die ehemals starke Gewerkschaftsbewegung ist nach dem Putsch 1980 brutal zerschlagen worden und hat sich bis heute nicht davon erholt. Dazu trägt bei, dass die Gesetzgebung nach wie vor sehr unvorteilhaft für die Gewerkschaften ist und eine Organisation in den Betrieben deutlich erschwert wird. Legale Streiks sind nur unter sehr begrenzten Bedingungen möglich, und die Gesetzeslage lässt sogenannte gelbe Gewerkschaften zu, in die die Arbeitnehmer von ihren Betrieben gedrängt werden. Das größte Problem für die Organisierung aber ist, dass diemeisten Menschen sowieso nicht in Betrieben arbeiten, die die notwendige Größe für gewerkschaftliche Aktivitäten haben. Statt des gewerkschaftlichen Kampfes gilt das Ideal des Selfmademan. Sich als Geschäftsmann nach oben zu kämpfen ist der derzeitige türkische Traum, und weil die AKP den Eindruck vermittelt, unter ihrer Regierung sei das eher möglich als bei den traditionellen kemalistischen Parteien, hat sie bei den Wahlen 2007 einen hohen Sieg eingefahren.
Türken und Europa, Türken und Deutsche
Gemeinsamkeiten in der Geschichte
Die Frage nach einer gemeinsamen europäisch-türkischen Geschichte birgt mehr Überraschungen, als man gemeinhin annimmt. Während es heute so scheint, als sei die Türkei erst mit den sogenannten Gastarbeiterzügen, die in den 1960 er Jahren dringend benötigte
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