Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Ersten Weltkrieges war nicht zuletzt eine Antwort auf den Zerfall des Reiches, der im Kerngebiet mit allen Mitteln gestoppt werden sollte. Nach der Gründung der Republik waren deshalb die Kurden die einzige große ethnische nicht-türkische Volksgruppe. Zwar gibt es in der Türkei eine Vielzahl von ethnischen Minderheiten, doch außer den Kurden sind sie zahlenmäßig entweder nicht so relevant – wie die Lazen im Nordosten des Schwarzmeergebietes – oder aber es handelt sich um Bosniaken, Albaner, Tscherkessen, Tschetschenen, die als Muslime vom Balkan oder aus dem Kaukasus vertrieben worden und ins Kerngebiet des Osmanischen Reiches geflüchtet waren. Für sie, wie auch für die aus Griechenland vertriebenen Muslime, galt und gilt das Credo: Jeder, der sich Türke nennt, ist Türke. Es ist ein Versprechen im Sinne des Staatsbürgers. Sie gehören dazu wie in Deutschland die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches Vertriebenen.
Aufgrund dieser Geschichte fällt es den Türken auch heute so schwer, den Konflikt mit den Kurden über ein föderales System zu lösen. Für jeden Deutschen, der es gewohnt ist, seinen Staat in Bundesländern zu denken, ist es zunächst schwer verständlich, warum man nicht einfach ein Bundesland Kurdistan schafft und den Kurden soviel Autonomie einräumt wie in Deutschland den Bayern. In der Türkei, und zwar sowohl unter Türken wie Kurden, würde das jedoch mehrheitlich als Vorstufe zur Abspaltung verstanden werden. Türken und Kurden blicken dabei weniger auf Deutschland als vielmehr auf den Nordirak, wo die Kurden gerade versuchen, aus ihrem Autonomiegebiet einen unabhängigen Staat zu machen, und auch nach Spanien. Die Kurden träumen von einer Autonomie wie der im Baskenland oder in Katalonien, deren Bewohner die relative Selbständigkeit ihrer Provinzen ja auch einem Zentralstaat abgerungen haben. Dabei verweisen die Türken aber immer wieder auf die ETA , nach dem Motto: Da könne man doch sehen, dass alle Zugeständnisse nicht ausreichen, den Terror zu beenden – selbst in einem mittlerweile so reichen Land wie Spanien, dass zudem noch Mitglied der EU ist.
Statt über Föderalismus wird deshalb in der Türkei, wiederum ähnlich wie in Frankreich, eher über Dezentralisierung diskutiert, konkret über mehr Eigenständigkeit für die Kommunen. Das ist schön und gut, hat aber einen großen Haken. Auch wenn die Kommunen mehr Entscheidungskompetenzen erhalten, ihr Budget kommt doch weitgehend aus Ankara. Die Kommunen haben praktisch keine eigenen Steuereinnahmen und erhalten ihr Geld nach einem komplizierten Schlüssel aus der Hauptstadt. Dabei zeigt sich dann regelmäßig, dass es immer den Kommunen besonders gut geht, deren Bürgermeister zufällig Mitglied der regierenden Partei in Ankara ist. Das macht generell die Bürger für die nächsten Kommunalwahlen nachdenklich, hat aber im kurdisch besiedelten Südosten noch einen besonderen Effekt. Nach Ende des Krieges mit der PKK und Aufhebung des Ausnahmezustandes 2001 konnte die eher linke, nationalistische kurdische Partei erhebliche Gewinne erzielen und in fast allen Städten im Südosten den Bürgermeister stellen. Jenseits der ethnischen Auseinandersetzung, im Alltag der Kommunalpolitik, zeigte sich jedoch bald, dass viele schöne Projekte nicht realisiert werden konnten, weil das Geld aus Ankara nicht kam.
So wie über Zentralismus versus Dezentralisierung seit langem heftig diskutiert wird, ist auch die Rolle des Präsidenten als Oberhaupt des zentralen Staates immer wieder umstritten. Laut Verfassung ist die Türkei eine parlamentarische Demokratie. Die Regierung wird vom Parlament gewählt, der Ministerpräsident hat die politische Richtlinienkompetenz. Das ähnelt sehr dem deutschen Modell, allerdings mit einem gravierenden Unterschied: Der Staatspräsident hat in der Türkei wesentlich mehr zu sagen als in Berlin. Der Präsident ist Oberbefehlshaber der Armee, kann relativ leicht neue Gesetze blockieren und hat das letzte Wort bei der Besetzung aller relevanten Stellen in der Bürokratie. Nicht zuletzt deshalb entbrannte im Frühjahr 2007 ein heftiger Machtkampf zwischen dem Militär und der mehrheitlich kemalistischen, säkularen Bürokratie auf der einen und der moderat-islamischen Regierung auf der anderen Seite, als es um die Neuwahl des Präsidenten ging. Obwohl die regierende AKP im Parlament genügend Stimmen hatte, um letztlich einen Kandidaten ihrer Wahl durchzusetzen,
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