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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Gottschlich
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christlichem Europa und muslimischem osmanischen Reich erzählt wird, verlief tatsächlich wesentlich komplizierter, auch wenn schon Luther ins Horn vom Kampf der Kulturen blies und seine Anhänger zum Widerstand gegen die muslimischen Türken aufrief. Schlimmer aber noch als die Türken waren für ihn die Juden und Papisten. Die Erzählung vom »Wir« gegen »Die« ist eine ideologische Aufbereitung von Geschichte, die heute unter anderem dazu dienen soll, eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU abzulehnen.
    Tatsächlich gab es Verbindungen nicht nur auf diplomatischer Ebene, sondern auch durch Austausch auf technischem und kulturellem Gebiet. Bereits die großen Kanonen, mit denen die osmanische Armee die Mauern Konstantinopels 1453 sturmreif schoss, hatte ein Kanonengießer aus Österreich für den Sultan gebaut. Je größer die technische Überlegenheit West- und Mitteleuropas in den kommenden Jahrhunderten werden sollte, umso mehr bemühten sich die Sultane um Anschluss und Unterstützung im Westen. Den Höhepunkt osmanischer Macht markierte das 16 . Jahrhundert, als unter Süleyman dem Prächtigen, genannt auch Süleyman der Gesetzgeber ( 1520 bis 1566 ), das Reich seine größte territoriale Ausdehnung erreichte und auch in seiner kulturellen Blüte stand. Doch schon damals schauten die Künstler am Hofe der Sultane nach Westen. In Orhan Pamuks Roman »Rot ist mein Name« wird sehr anschaulich beschrieben, wie die Elite der osmanischen Hofmaler, die traditionell im Stile der persischen Miniaturmalerei arbeiteten, allmählich begann, den westeuropäischen Porträtstil zu kopieren. Lebensechte Porträts gelten im Bilderverbot des Islam ja als Gotteslästerung, was aber einige Sultane nicht daran hinderte, echte Porträts von sich anfertigen zu lassen. Nachdem Mehmet II ., der Eroberer von Konstantinopel, dafür noch auf den italienischen Maler Bellini zurückgriff – das Original des Bellini-Porträts hängt heute in London – beauftragten seine Nachfolger bereits einheimische Künstler damit.
    Es dauerte allerdings noch bis in die erste Hälfte des 19 . Jahrhunderts, bis auch der osmanische Hof zu Reformen schritt, zu denen sich etliche Monarchen im Westen bereits im Gefolge der französischen Revolution genötigt gesehen hatten. Auch in Istanbul erfolgten solche Reformen nicht freiwillig, sondern waren der Schwäche des Reiches geschuldet. Seit der Glanzzeit osmanischer Machtentfaltung im 16 . Jahrhundert stagnierte das Reich oder musste sich sogar mit ersten Gebietsverlusten abfinden. Dieser Erosionsprozess setzte sich im 18 . Jahrhundert mit zunehmender Geschwindigkeit fort, und im 19 . Jahrhundert kämpfte das Reich bereits mehrmals um seine Existenz. Sowohl vonseiten der ehemaligen ägyptischen Vasallen wie auch vonseiten Russlands gerieten die Osmanen immer stärker unter Druck. Dadurch wuchs der Modernisierungsdruck im Innern, der als Erstes dazu führte, dass Sultan Mahmut II . 1826 die Janitscharen, jahrhundertelang das militärische Rückrat der osmanischen Armee, nach einem Aufstandsversuch blutig liquidieren ließ, um seine Armee modernisieren zu können. Sein Nachfolger Abdülmecid I. dekretierte dann 1839 die sogenannten Tanzimat-Reformen, mit denen die Rechte der Untertanen gegenüber dem Staat erstmals klar definiert und Nicht-Muslime den Muslimen gleichgestellt wurden. Im Zuge dieser Reformen schaffte man auch die Todesstrafe für Konvertiten ab, also für Muslime, die sich zu einer anderen Religion bekehren ließen, etwa dem Christentum. 1854 entstand die erste Universität nach westlichem Vorbild. Sichtbarstes Zeichen der Modernisierung wurde der Umzug des Sultans in der zweiten Hälfte des 19 . Jahrhunderts. Seit der Eroberung Konstantinopels war das Reich von Topkapi aus, dem weitläufigen Sultanspalast auf der Spitze der Halbinsel, regiert worden. Nun ließ der Sultan am Ufer des Bosporus einen neuen Palast errichten, der den Schlössern Italiens und Frankreichs ähnelte und damit auch nach außen den Bruch mit der Tradition symbolisierte. Allerdings konnten die militärischen, technischen und auch verfassungsrechtlichen Anleihen aus dem Westen den Niedergang des Osmanischen Reiches letztlich nicht stoppen.
    Der Virus, dem das Reich zum Opfer fiel, war eine Idee, die ebenfalls aus dem Westen kam. Die Idee hieß Nation und war mit dem osmanischen Vielvölkerstaat absolut unkompatibel. Die Stärke des Osmanischen Reiches hatte immer darin bestanden, als Zentralstaat den einzelnen

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