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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Gottschlich
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vorbei der Unabhängigkeitskrieg. Reste des Heeres schlossen sich mit zunächst spontan entstandenen regionalen Unabhängigkeitsbewegungen zusammen und bildeten schließlich unter dem Kommando des erfolgreichen osmanischen Generals Mustafa Kemal ein Volksheer, das den Vertrag von Sèvres ablehnte und für einen Staat in den Grenzen der bei Abschluss des Waffenstillstandes von den Osmanen kontrollierten Gebiete eintrat. Nach erfolgreichem Kamp, zunächst gegen die Armenier im Osten, vor allem aber gegen die griechischen Invasoren im Westen, wurde dann schlussendlich 1923 in Lausanne ein neuer Friedensvertrag geschlossen, in dem die Türken zwar noch das osmanische Velajat Mossul an die Briten abtreten mussten, aber das anatolische Kernland mit Thrakien zum Bestandteil des neuen türkischen Staates erklärt wurde.
    Die Vorbilder für die neuen staatlichen Institutionen suchte man in Westeuropa. Der Aufbau des Staates erfolgte nach französischem Vorbild, Zivil- und Strafrecht kopierte man von der Schweiz, Italien und Deutschland. Nachdem die Republikaner rund um Mustafa Kemal ihre Macht erst einmal konsolidiert hatten, entzündeten sie ein ganzes Feuerwerk an Reformen, mit denen die Türkei der europäischen Zivilisation angenähert werden sollte.
    Es begann nur wenige Monate nach der Republikgründung im Oktober 1923 mit der Abschaffung des Kalifats. Kurz danach wurde – wie bereits geschildert – der traditionelle osmanische Fes verboten, und die türkischen Männer wurden aufgefordert, stattdessen einen modernen europäischen Hut zu tragen. Frauen mussten ihren Schleier abnehmen und sollten höchstens noch ein Kopftuch verwenden. Damit begann der Kulturkampf, in dem es vor allem darum ging, die Religion als prägende Grundlage des öffentlichen Lebens zurückzudrängen und stattdessen weltliche Regeln durchzusetzen.
    Die islamischen Orden, die über Jahrhunderte im Osmanischen Reich eine herausragende Stellung gehabt hatten, wurden verboten. Dann ersetzte man 1926 die Scharia als Quelle des Rechts durch das schweizerische Zivilrecht. Mehrehen wurden verboten und die rechtliche Gleichstellung der Frau eingeleitet. Bereits 1934 erhielten Frauen in der Türkei das aktive und passive Wahlrecht.
    Schon 1928 wurde der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen, gleichzeitig ersetzte man die arabische Schrift durch lateinische Buchstaben. Mustafa Kemal persönlich engagierte sich für eine landesweite Alphabetisierungskampagne, ein neu geschaffenes Bildungsministerium begann, das Land mit einem Netz von Dorfschulen zu überziehen, mit dem erstmals auch Kinder jenseits der reichen Schichten in den Städten Zugang zu einer rudimentären Bildung bekamen.
    Diese Kulturrevolution von oben ging bekanntlich nicht widerstandslos über die Bühne. Die religiösen Netzwerke mobilisierten ihre Anhänger und fanden vor allem unter Kurden, die sich durch die Republikanische Volkspartei nach dem erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg und der anschließenden Betonung des Türkentums auch ethnisch ausgegrenzt fühlten, großen Widerhall. Bereits 1925 kam es zum ersten großen Aufstand, den der kurdische Scheich Said, ein Chef des islamischen Nakshibendiye-Ordens, anführte. Der Aufstand wurde, wie auch die folgenden bewaffneten Erhebungen der Kurden, blutig niedergeschlagen. Mustafa Kemal ließ die Armee rücksichtslos vorgehen, richtete Sondergerichtshöfe ein und ließ hunderte Todesstrafen vollstrecken.
    Doch obwohl Mustafa Kemal, der 1934 den Ehrennamen »Atatürk« (was wörtlich soviel heißt wie Ahne der Türken) verliehen bekommen hatte, sein Programm der Verwestlichung des Landes teilweise mit Zwang und Gewalt durchsetzte, war er, gemessen an den damaligen Diktatoren Europas – von Hitler über Stalin bis Mussolini und Franco – fast schon ein Demokrat. Er ließ eine Opposition zwar nicht in organisierter Form zu, Widerspruch war aber möglich und Diskussionen durchaus erwünscht.
    Für ihn war die Verwestlichung der Türkei auch nicht nur ein abstraktes politisches Ziel. Anders als zuvor unter den Osmanen, als es immer darum gegangen war, Elemente westlicher Kultur und Technik zu übernehmen, ohne dabei seine orientalische Seele zu verlieren, war Mustafa Kemal selbst Westler durch und durch. Er stammte aus Saloniki, gehörte zur westlich orientierten Bildungselite des Landes und lebte dem Volk auch demonstrativ vor, was er durch seine Reformen zu erreichen suchte. Er tanzte und trank in der Öffentlichkeit, er ließ

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