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Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees

Titel: Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Gottschlich
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dümpelte vor sich hin und die Schiffbautradition drohte verlorenzugehen. Nur an drei Universitäten, zwei in Istanbul, eine am Schwarzen Meer, werden noch Schiffbauingenieure ausgebildet. Viel zu wenige für den heutigen Bedarf. Jetzt entsteht in Tuzla fast jeden Monat eine neue Werft. Auch auf der gegenüberliegenden Seite des Marmarameeres bei Yalova werden schon die ersten Obstplantagen gerodet, um Platz für neue Werften zu schaffen.
    Gebaut wird mittlerweile fast alles. Von Frachtern und Containerschiffen über anspruchsvolle Forschungsschiffe bis hin zu Luxusyachten für den internationalen Jet-Set. So hat sich beispielsweise Formel- 1 -Papst Bernie Eccelstone in Tuzla eine Luxusyacht bauen lassen, weil die Qualität stimmt und es trotzdem wesentlich preiswerter ist als in Westeuropa oder in den USA . Das liegt nicht zuletzt an den Dumpinglöhnen, die die türkischen Arbeiter im Vergleich zu ihren deutschen oder italienischen Kollegen erhalten. Ein gewerkschaftlich organisierter Facharbeiter bekommt rund 1200 Lira im Monat, das sind rund 800 Euro. Die nicht organisierten Leiharbeiter freuen sich, wenn sie 900 Lira, also knapp 600 Euro, nach Hause bringen. Es gibt aber genug Leute, die als Tagelöhner selbst für weniger als 30 Lira am Tag schuften. Ein Ingenieur rechnete »Zaman« vor, wie die Verdienstspannen in Tuzla kalkuliert werden. In seiner Werft wurde ein Forschungsschiff für Norwegen gebaut, das 42 Millionen Euro kostete. Wenn alle Material- und Arbeitskosten abgezogen werden, bleiben den Eignern fast zehn Millionen Euro. Ein einträgliches Geschäft, von dem die Arbeiter endlich ein größeres Stück abhaben wollen. Im Februar 2008 kam es deshalb zu ersten längeren Streiks, am Ende blockierte die Gewerkschaft mit Sit-ins den Zugang zu verschiedenen Werften. Die Polizei schritt ein, es kam zu wüsten Knüppeleien und etlichen Festnahmen.
    Zwei Wochen später unterschrieb der Verband der Werftbesitzer dann aber mit der Gewerkschaft und dem Arbeitsministerium einen Vertrag, der genau festlegt, wie die Sicherheit an den Arbeitsplätzen verbessert werden muss. Die übrigen Ziele, die die Beschäftigten im boomenden Werftsektor demnächst durchsetzen wollen, sind der 8 -Stunden-Tag, bezahlter Urlaub, Krankenversicherung und gewerkschaftliche Organisation für alle. Und natürlich eine bessere Bezahlung.
    Die türkische Gewerkschaftsbewegung
    Die Gewerkschaften haben es aber nicht nur unter den besonderen Bedingungen auf den Werften, sondern generell in der Türkei sehr schwer. Das war aber nicht immer so. Als ich als junger Journalist 1979 das erste Mal in die Türkei fuhr, war die Gewerkschaft eine Macht. DISK , der revolutionäre Gewerkschaftsdachverband, hatte rund 600000 aktive Mitglieder und ging keinem Streit aus dem Weg, wenn es darum ging, die Bedingungen für seine Mitglieder zu verbessern. Etliche Fabriken im Land wurden damals bestreikt, das Marmara-Hotel am Taksim-Platz im Zentrum von Istanbul, eines der wenigen Luxushotels, die es damals in der Türkei gab, wurde gar seit über einem halben Jahr bestreikt. Wo heute fast jeden Tag hochkarätige Manager-Konferenzen stattfinden, fegte einst der Wind durch zerbrochene Fensterscheiben ins leere Foyer, und man konnte meinen, dass Haus stünde kurz vor dem Abriss. Doch nicht nur DISK war damals stark. Die Linke insgesamt spielte eine ganz andere Rolle als heute. Im Parlament war die republikanische CHP noch traditionell sozialdemokratisch ausgerichtet und unterstützte die Gewerkschaften. Eine starke außerparlamentarische Linke versuchte, das Land im Straßenkampf zu erobern, und lieferte sich erbitterte, gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Grauen Wölfen, der militanten Organisation der Rechten. Jeden Tag gab es mehrere Tote auf den Straßen, bestimmte Viertel oder gar ganze Städte waren No-Go-Areas für die eine oder andere Seite.
    Vor allem der Straßenkampf war es, der dann dem Militär den Vorwand für den dritten Putsch innerhalb von 30 Jahren lieferte und ihr Einschreiten bei der breiten Bevölkerungsmehrheit legitimierte. Am 12 . September 1980 rollten die Panzer. Als die Menschen erwachten, waren bereits alle wichtigen Kreuzungen in Istanbul besetzt, der Rundfunk vom Militär übernommen, die Regierung abgesetzt und die Chefs der Parteien verhaftet. Wenn auch der konkrete Zeitpunkt eine Überraschung war, ganz unerwartet kam der Putsch nicht. Es hatte zuvor eindeutige Drohungen an die Politik gegeben, in manchen Medien war gar offen

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