Türkisches Gambit
schmalen, fast lippenlosen Mund und strenge braune Augen. Genauer, ein solches Auge, das andere war noch immer nicht zu sehen, dafür war der Blick des Hauptmanns nicht mehr voller Todesangst und Verzweiflung.
»Sie leben – wie schön«, sagte Sobolew unbekümmert. »Aber ohne Pistole darf ein Offizier niemals unterwegs sein, auch nicht ein Stabsoffizier. Das ist ja, als ob eine Dame ohne Hut auf die Straße ginge, man würde sie für ein leichtfertiges Frauenzimmer halten.« Er lachte laut auf, sah jedoch Warjas strafenden Blick und verschluckte sich. »Pardon, Mademoiselle.«
Zum General trat ein schneidiger Kosakenunteroffizier und zeigte mit dem Finger irgendwo zur Seite.
»Euer Exzellenz, ich glaube, es ist Semjonow!«
Warja drehte sich um, und ihr wurde schlecht: Beim Gebüsch stand plötzlich der Braune des Banditen, auf dem sie so erfolglos geflohen war, und rupfte Grashalme, als wäre nichts weiter, und an seiner Seite baumelte noch immer das ekelerregende Anhängsel.
Sobolew sprang aus dem Sattel, trat zu dem Braunen, kniff skeptisch die Augen ein, drehte die schreckliche Kugel hin und her.
»Das soll Semjonow sein?« sagte er zweifelnd. »Du spinnst, Netschitailo. Semjonows Gesicht sah ganz anders aus.«
»Aber doch, Michail Dmitrijewitsch«, sagte der Unteroffizier eifrig. »Da, das eingerissene Ohr, schauen Sie.« Er zog die violetten Lippen des toten Kopfes auseinander. »Und ein Vorderzahn fehlt. Er ist es.«
»Mag sein.« Der General nickte nachdenklich. »Mein Gott, ist der verunstaltet. Warwara Andrejewna, das ist ein Kosak aus der zweiten Hundertschaft, den die Mes’chetinzen des Daud Bek heute früh entführt haben.« Er drehte sich zu Warja um.
Aber Warja hörte nicht – vor ihren Augen tauschten Himmel und Erde die Plätze. D’Hévrais und Fandorin konnten das erschlaffte Fräulein gerade noch auffangen.
DRITTES KAPITEL,
welches fast vollständig
morgenländischer Tücke gewidmet ist
»Revue Parisienne« (Paris)
vom 15. (3.) Juli 1877
»Das Wappen des Russischen Imperiums, der doppelköpfige Adler, spiegelt aufs trefflichste das Verwaltungssystem in diesem Land, wo jedwede auch nur im Ansatz wichtige Angelegenheit nicht einer, sondern mindestens zwei Instanzen übertragen wird, die sich gegenseitig behindern und für nichts verantwortlich sind. Das Gleiche geschieht in der kämpfenden Armee. Oberbefehlshaber ist formell Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, welcher sich derzeit in dem Dorf Zarewizy aufhält, aber in unmittelbarer Nähe seines Stabs, in dem Städtchen Bela, ist das Hauptquartier von Imperator Alexander II., und dort befinden sich der Kanzler, der Kriegsminister, der Chef der Gendarmerie und weitere hohe Beamte. Erwägt man dann noch, daß die verbündete rumänische Armee einen eigenen Oberbefehlshaber hat, den Fürsten Karl von Hohenzollern-Sigmaringen, so fällt einem nicht der doppelköpfige König der Gefiederten ein, sondern die witzige russische Fabel von Schwan, Krebs und Hecht, die unüberlegt vor dieselbe Kutsche gespannt wurden …«
»Also, wie soll ich Sie anreden, ›Madame‹ oder ›Mademoiselle‹?« fragte der schwarzhaarige Gendarmerieoberstleutnant mit unangenehm verzogenem Mund. »Wir sind hier nicht auf einem Ball, sondern beim Armeestab, und ich mache Ihnen keine Komplimente, sondern führe ein Verhör durch, also lassen Sie gefälligst Ihre Faxen.«
Der Oberstleutnant hieß Iwan Charitonowitsch Kasansaki, er zeigte keinerlei Verständnis für Warjas Lage, und es sah schon so aus, als würde sie zwangsweise nach Rußland zurückgeschickt.
Am Vorabend waren sie erst sehr spät in Zarewizy eingetroffen. Fandorin begab sich sofort in den Stab, und Warja, die vor Müdigkeit fast umfiel, kümmerte sich gleichwohl noch um das Notwendigste. Krankenschwestern von der Sanitätsabteilung der Baronesse Wrejskaja gaben ihr Kleidung, machten Wasser warm, und Warja brachte sich erst einmal in Ordnung, dann ließ sie sich auf eine Pritsche fallen – zum Glück gab es fast keine Verwundeten im Lazarett. Die Begegnung mit Petja wurde auf den nächsten Tag verschoben, denn für die bevorstehende Aussprache mußte sie hellwach sein.
Aber am Morgen konnte sie nicht ausschlafen. Es erschienen zwei Gendarmen mit Helm und Karabiner und geleiteten »das angebliche Fräulein Suworowa« geradewegs in die Sonderabteilung der Westgruppe, und sie durfte sich nicht mal kämmen.
Und nun versuchte sie schon seit Stunden, dem glattrasierten Peiniger mit den dicken
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