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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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noch kein Effendi, diente ihm als Sekretär. Und nun hören Sie sich den Werdegang Midhats an.« Misinow nahm ein einzelnes Blatt heraus und räusperte sich. »Dazumal war er Generalgouverneur der Donau-Provinz. Unter seiner Protektion eröffnete Anwar in dieser Region eine Diligence-Verbindung, baute Eisenbahnstrecken und schuf auch ein Netz von wohltätigen Lehranstalten für Waisenkinder muselmanischen wie auch christlichen Glaubens.«
    »W-wirklich?« fragte Fandorin interessiert.
    »Ja. Eine löbliche Initiative, nicht wahr? Überhaupt entfalteten Midhat Pascha und Anwar hier eine Tätigkeit, die allen Ernstes die Gefahr heraufbeschwor, Bulgarien aus der russischen Einflußsphäre zu verlieren. Unser Botschafter in Konstantinopel, Nikolai Pawlowitsch Gnatjew, mußte all seinen Einfluß auf den Sultan Abd ul Asis geltend machen, um zu erreichen, daß der übereifrige Gouverneur abberufen wurde. Midhat wurde Vorsitzender des Staatsrats und erließ ein Gesetz über die allgemeine Volksbildung, ein hervorragendes Gesetz, wie wir es übrigens in Rußland bis heute nicht haben. Können Sie sich denken, wer das Gesetz ausarbeitete? Richtig – Anwar Effendi. Das alles wäre ja sehr rührend, aber unser Gegenspieler leistete nicht nur Aufklärungsarbeit, sondern beteiligte sich schon damals intensiv an den Hofintrigen, zumal sein Gönner mehr als genug Feinde hatte. Man schickte ihm Mörder, schüttete ihm Giftin den Kaffee, schob ihm sogar eine an Lepra erkrankte Beischläferin unter, und Anwar fiel die Aufgabe zu, den großen Mann gegen all diese netten Streiche abzuschirmen. Die russische Partei bei Hofe erstarkte, und 1869 wurde der Pascha als Generalgouverneur in die schlimmste Einöde gesandt, ins wilde und bettelarme Mesopotamien. Als Midhat versuchte, dort Reformen durchzuführen, flammte in Bagdad ein Aufstand auf. Wissen Sie, was er tat? Er rief die Ältesten und die Geistlichkeit der Stadt zusammen und hielt ihnen eine kurze Rede folgenden Inhalts. Ich lese sie Ihnen wörtlich vor, denn ich bin aufrichtig begeistert von der Energie und dem Stil: ›Verehrte Mullas und Älteste, wenn die Unruhen nicht binnen zwei Stunden aufhören, lasse ich Sie alle aufhängen und die ruhmreiche Stadt Bagdad von allen vier Seiten anzünden, und dann mag der Großherr, Allah beschütze ihn, auch mich für die Untat aufhängen lassen.‹ Natürlich herrschte nach zwei Stunden Frieden.« Misinow brummte und schüttelte den Kopf. »Jetzt konnte er seine Reformen in Angriff nehmen. In weniger als drei Jahren gelang es Anwar Effendi unter Midhats Regentschaft, den Telegraph einzuführen, in Bagdad eine Pferdebahn zu eröffnen, Dampfer auf den Euphrat zu schicken, die erste irakische Zeitung zu gründen und Schüler für seine Handelsschule zu werben. Wie finden Sie das? Ich rede schon gar nicht von einer Lappalie wie der Schaffung der ›Osmano-Osmanischen Schiffahrtsgesellschaft‹, deren Schiffe durch den Suezkanal bis London fahren. Später glückte es Anwar mit einer sehr pfiffigen Intrige, den Großwesir Mahmud Nedim zu stürzen, der so sehr von dem russischen Gesandten abhängig war, daß die Türken ihn ›Nedimow‹ nannten. Midhat stand der Regierung des Sultans vor, hielt sich aber nur zweieinhalb Monate auf dem hohen Posten – unser Gnatjew hatte ihn wieder ausgetrickst.Midhats größter und vom Standpunkt der anderen Paschas unverzeihlichster Fehler war seine Unbestechlichkeit. Er nahm den Kampf gegen das Schmiergeldunwesen auf und sprach vor europäischen Diplomaten den Satz, der ihm zum Verhängnis wurde: ›Es ist an der Zeit, Europa zu zeigen, daß nicht alle Türken jämmerliche Prostituierte sind.‹ Dafür wurde er aus Stambul gefeuert und mußte als Gouverneur nach Saloniki gehen. Dieses griechische Städtchen blühte alsbald auf, und der Hof des Sultans sank wieder in Schlaf, Wohlleben und Durchstecherei.«
    »Sie sind ja richtig v-verliebt in diesen Mann«, unterbrach Fandorin den General.
    »In Midhat? Gewiß.« Misinow zuckte die Achseln. »Und ich wäre froh, ihn als Oberhaupt der russischen Regierung zu sehen. Aber er ist ein Türke. Noch dazu ein Türke, der sich an England orientiert. Unsere Bestrebungen sind gegensätzlicher Art, darum ist Midhat unser Feind. Unser gefährlichster Feind. Europa ist uns nicht gewogen und fürchtet uns, dafür trägt es Midhat auf Händen, besonders seit er der Türkei die Verfassung geschenkt hat. Und jetzt, Erast Petrowitsch, schicken Sie sich in Geduld. Ich lese Ihnen

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