Türkisches Gambit
Generalleutnant Baron Krüdener. Ich befehle, Plewna zu nehmen und sich dort mit mindestens einer Division zu verschanzen. Nikolai.«
Fandorin nickte.
»Oberstleutnant, sofort chiffrieren und an Krüdener telegraphieren«, befahl Misinow.
Kasansaki nahm das Blatt ehrerbietig entgegen und eilte sporenklirrend zur Ausführung.
»Sie können also wieder Ihren Dienst antreten?« fragte der General.
Fandorin verzog das Gesicht.
»Lawrenti Arkadjewitsch, ich habe doch wohl meine P-flicht getan, indem ich das türkische Flankenmanöver meldete. Aber Krieg führen gegen die arme Türkei, die auch ohne unsere glanzvollen Bemühungen auseinanderfallen würde – entbinden Sie mich.«
»Das tue ich nicht, mein Herr, nein!« rief Misinow ärgerlich. »Wenn Patriotismus für Sie ein leeres Wort ist, erlaube ich mir, Sie zu erinnern, daß Sie, Herr Titularrat, nicht im Ruhestandsind, sondern nur in einem unbefristeten Urlaub, und obwohl Sie beim diplomatischen Dienst geführt werden, gehören Sie nach wie vor zu meiner Dritten Abteilung!«
Warja stöhnte. Fandorin, den sie für einen anständigen Menschen gehalten hatte, ein Polizeiagent? Und gerierte sich als ein Petschorin 4 ! Interessante Blässe, Schmachteblick, edles Grauhaar. Da sollte man noch Vertrauen zu den Menschen haben!
»Euer Hohe E-exzellenz«, sagte Fandorin leise; er schien nicht zu ahnen, daß er für Warja ein für allemal erledigt war. »Ich diene nicht Ihnen, sondern Rußland. Und an einem Krieg, der für Rußland nutzlos, ja, verderblich ist, wünsche ich mich nicht zu beteiligen.«
»Über den Krieg entscheiden nicht Sie und nicht ich. Darüber entscheidet der Imperator«, sagte Misinow barsch.
Eine ungute Pause entstand. Als der Chef der Gendarmerie dann wieder das Wort nahm, klang seine Stimme gänzlich anders.
»Erast Petrowitsch, mein Bester«, begann er gefühlvoll, »Hunderttausende Russen riskieren ihr Leben, das Land stöhnt unter der Last des Krieges. Ich habe ein komisches Vorgefühl. Alles läuft gar zu glatt. Ich fürchte, das nimmt kein gutes Ende.«
Als er keine Antwort bekam, rieb er sich müde die Augen und gestand: »Ich hab’s schwer, Fandorin, sehr schwer. Überall Unordnung, der reinste Saustall. Es fehlt an Mitarbeitern, an tüchtigen zumal. Ich will Ihnen ja keinen Routineposten aufhalsen. Es gibt da eine hübsche Aufgabe, nicht leicht, genau das Richtige für Sie.«
Fandorin neigte fragend den Kopf, und der General sagte einschmeichelnd: »Sie erinnern sich an Anwar Effendi? DenSekretär des Sultans Abd ul Hamid? Na, der im Falle ›Asasel‹ eine Rolle gespielt hat?«
Fandorin zuckte kaum merklich zusammen, sagte aber nichts.
Misinow brummte: »Und für den hat dieser Idiot Kasansaki Sie gehalten, nicht zu fassen. Wir haben Informationen, wonach dieser interessante Türke höchstpersönlich eine Geheimoperation gegen unsere Truppen leitet. Er ist ein verwegener Mann mit einem Hang zum Abenteurer. Gut möglich, daß er in eigener Person bei uns auftaucht, es ist ihm zuzutrauen. Na, interessiert?«
»Ich höre Ihnen zu, Lawrenti Arkadjewitsch«, sagte Fandorin mit einem Seitenblick auf Warja.
»Na großartig«, freute sich Misinow und schrie: »Nowgorodzew! Die Mappe!«
Auf leisen Sohlen kam ein älterer Major mit den Achselschnüren des Adjutanten herein, reichte dem General eine rote Kalikomappe und entfernte sich sogleich wieder. Warja sah in der Türöffnung die schweißige Visage des Oberstleutnants Kasansaki und schnitt ihm eine spöttisch-verächtliche Grimasse – schadet dir gar nichts, du Sadist, steh dir ruhig die Beine in den Bauch vor der Tür.
»Also, hier ist, was wir über Anwar haben«, sagte der General und raschelte mit den Papieren. »Möchten Sie Notizen machen?«
»Nein, ich merk’s mir«, sagte Fandorin.
»Über die frühe Periode nur sparsamste Angaben. Geboren vor cirka fünfunddreißig Jahren. Nach etlichen Informationen in dem muselmanischen bosnischen Städtchen Hévrais. Eltern unbekannt. Erzogen irgendwo in Europa, in einer der berühmten Lehranstalten der Lady Aster, an die Sie sich natürlich von dem Fall ›Asasel‹ erinnern.«
Schon zum zweitenmal hörte Warja diesen seltsamen Namen, und zum zweitenmal reagierte Fandorin seltsam – er ruckte mit dem Kinn, als sei ihm der Kragen plötzlich zu eng geworden.
»Ins Blickfeld gelangte Anwar Effendi vor zehn Jahren, als in Europa erstmalig über den großen türkischen Reformer Midhat Pascha gesprochen wurde. Unser Anwar, damals
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