Türkisches Gambit
der zahlreichen Sultaninnen davon geträumt, ihren Sohn zu inthronisieren, und mit allen Mitteln versucht, die Söhne ihrer Rivalinnen zu beseitigen. Es gibt beim Hof einen speziellen Friedhof für die getöteten Prinzen, und wir Russen mit unseren Boris und Gleb sowie dem Zarewitsch Dmitri nehmen uns nach türkischen Maßstäben einfach lächerlich aus.
Der Thron des Osmanischen Reiches wird nicht vom Vater auf den Sohn vererbt, sondern vom älteren auf den jüngeren Bruder. Wenn der Vorrat an Brüdern zur Neige geht, tritt die nächste Generation in ihre Rechte ein, und wieder folgt auf den älteren der jüngere Bruder. Jeder Sultan hat tödliche Angst vor seinem jüngeren Bruder oder seinem ältesten Neffen, und die Chancen des Thronfolgers, seine Inthronisierung zu erleben, sind äußerst gering. So ein Erbprinz wird in völliger Isolation gehalten, man läßt niemanden zu ihm und sucht für ihn nach Möglichkeit Beischläferinnen aus, die keine Kinder gebären können. Nach alter Tradition bedienen den künftigen Padischah Sklaven mit abgeschnittener Zunge und durchstochenem Trommelfell. Du kannst Dir vorstellen, wie es bei solcher Erziehung um die seelische Gesundheit seiner Hoheit bestellt ist. Suleiman II. zum Beispiel verbrachte neununddreißig Jahre in Gefangenschaft, wo er den Koran abschrieb und mit Bildern schmückte. Als er dann endlich Sultan wurde, wollte er schon bald wieder zurück und entsagte dem Thron. Ich kann ihn verstehen – Bilderchen malen macht ja auch mehr Spaß.
Aber zurück zu Murad. Er war ein schöner, nicht dummer und sogar recht belesener junger Mann, doch mit einer Neigung zu übermäßigen Trankopfern und einem durchaus berechtigten Verfolgungswahn. Mit Vergnügen überließ er dem weisen Midhat die Zügel der Regierung, so daß bei unseren Schlauköpfen alles nach Plan lief. Aber sein plötzlicher Aufstieg und der sonderbare Tod seines Oheims wirkten dermaßen auf den armen Murad, daß er wirr redete und in Tobsucht verfiel. Die europäischen Psychiater, die ihn heimlich besuchten, gelangten zu dem Schluß, daß er unheilbar sei und sein Zustand sich nur noch verschlimmern könne.
Beachte die unwahrscheinliche Voraussicht von AnwarEffendi. Schon am ersten Tag der Regentschaft Murads, als alles noch glänzend aussah, bewarb sich our mutual friend 7 plötzlich um den Posten des Sekretärs beim Prinzen Abd ul Hamid, Bruder des Sultans und Thronfolger. Als ich das erfuhr, war mir klar, daß Midhat Pascha nicht an Murad V. glaubte. Anwar machte sich mit dem neuen Thronfolger vertraut, den er wohl für annehmbar hielt, und Midhat stellte Abd ul Hamid die Bedingung: Versprich, dem Land eine Verfassung zu geben, und du wirst Padischah. Der Prinz willigte natürlich ein.
Das Weitere ist Dir bekannt. Am 31. August bestieg Abd ul Hamid II. an Stelle des geisteskranken Murad V. den Thron, Midhat wurde Großwesir, und Anwar blieb bei dem neuen Sultan der Drahtzieher hinter den Kulissen und faktisch Chef der Geheimpolizei, das heißt (ha-ha), Dein Kollege, Lawrenti.
Es ist typisch, daß in der Türkei fast niemand von Anwar Effendi weiß. Er drängt sich nicht in den Vordergrund, zeigt sich nicht in der Öffentlichkeit. Ich zum Beispiel habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, als ich dem neuen Padischah meine Aufwartung machte. Anwar saß seitlich des Throns, im Schatten, mit einem riesigen schwarzen Vollbart (den ich für falsch halte), und mit einer dunklen Brille, was ein unerhörter Verstoß gegen die höfische Etikette ist. Während der Audienz blickte Abd ul Hamid mehrmals zu ihm hin, wie um Rat oder Unterstützung zu finden.
Nun weißt Du, mit wem Du von heute an zu tun hast. Wenn mich mein Gespür nicht täuscht, werden Midhat und Anwar den Sultan auch weiterhin manipulieren, wie es sie gut dünkt, und in ein-zwei Jährchen …«
»Nun, das Weitere ist uninteressant.« Misinow wischtesich mit dem Taschentuch die schweißige Stirn. »Zumal das Gespür den obergescheiten Nikolai Gnatjew doch noch getäuscht hat. Midhat Pascha hat sich nicht an der Macht gehalten, er wurde ins Exil geschickt.«
Erast Fandorin, der aufmerksam zugehört und sich kein einziges Mal gerührt hatte (im Gegensatz zu Warja, die auf dem harten Stuhl hin und her rutschte), fragte kurz: »Die Eröffnung ist k-klar, das Mittelspiel auch. Aber wo ist das Endspiel?«
Der General nickte beifällig.
»Da liegt der Hund begraben. Das Endspiel geriet dermaßen verwirrend, daß es selbst den vielerfahrenen Gnatjew
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