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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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einen ausführlichen Brief vor, den mir Nikolai Gnatjew schon voriges Jahr geschickt hat. Er wird Ihnen eine klare Vorstellung von dem Gegner vermitteln, mit dem wir es zu tun haben werden.«
    Der Chef der Gendarmerie entnahm seiner Mappe mehrere Blätter, die eng mit gleichmäßiger Kopistenhandschrift beschrieben waren, und begann vorzulesen.
    »Lieber Lawrenti, die Ereignisse in unserm von Allah behüteten Stambul entwickeln sich so rasend schnell, daß selbst ich nicht hinterherkomme, dabei hat Dein gehorsamer Diener, ohne falsche Bescheidenheit, die Hand schon mehrals ein Jahr am Puls des Kranken Mannes vom Bosporus. Dieser Puls war, nicht ohne mein Zutun, schon am Erlöschen und versprach, in Bälde ganz stehenzubleiben, aber seit dem Mai …«
    »Die Rede ist vom vorigen Jahr, 1876«, hielt es Misinow einzuwerfen für angezeigt.
    »… aber seit dem Mai schüttelt den kranken Mann das Fieber dermaßen, daß der Bosporus über seine Ufer tritt und die Mauern von Zargrad 5 einzustürzen drohen, und dann ist nichts mehr da, wo Du Dein Schild aufhängen könntest.
    Die Sache ist die, daß im Mai in die Hauptstadt des großen und unvergleichlichen Sultans Abd ul Asis, Schattens des Allmächtigen und Behüters des Glaubens, Midhat Pascha triumphal aus der Verbannung zurückkehrte und seine ›graue Eminenz‹ mitbrachte, den listigen Anwar Effendi.
    Diesmal ging der klug gewordene Anwar auf Nummer sicher – er handelte sowohl europäisch wie orientalisch. Der Anfang war europäisch: Seine Agenten kreuzten immer öfter in den Werften, dem Arsenal, dem Münzhof auf – und die Arbeiter, die schon seit langem keinen Lohn bekamen, strömten auf die Straße. Dann folgte ein rein orientalischer Schachzug. Am 25. Mai verkündete Midhat Pascha den Rechtgläubigen, ihm sei im Traum der Prophet erschienen (das prüfe mal einer nach) und habe seinem Sklaven befohlen, die sterbende Türkei zu retten.
    Derweil saß mein guter Freund Abd ul Asis wie gewöhnlich in seinem Harem und genoß die Gesellschaft seiner Lieblingsfrau, der schönen Mihri Chanum, die war guter Hoffnung, hatte ihre Launen und verlangte, der Gebieter solle ständig bei ihr sein. Diese goldhaarige, blauäugige Tscherkessin war außer für ihre überirdische Schönheit auchdafür berühmt, daß sie die Kasse des Sultans bis auf den Grund leerte. Allein im letzten Jahr verausgabte sie in den französischen Geschäften von Pera 6 mehr als zehn Millionen Rubel, und so ist verständlich, daß die Konstantinopolitaner sie, wie die zum understatement neigenden Engländer sagen würden, nicht besonders mochten.
    Glaube mir, Lawrenti, ich konnte daran nichts ändern. Ich beschwor, drohte, intrigierte wie ein Eunuch im Harem, aber Abd ul Asis war taub und stumm. Am 29. Mai tobte rund um den Palast Dolma Bahce (ein scheußliches Gebäude im europäisch-orientalischen Stil) eine vieltausendköpfige Menschenmenge, aber der Padischah versuchte nicht einmal, seine Untertanen zu beruhigen – er schloß sich in der Frauenhälfte seiner Residenz ein, wo ich keinen Zutritt habe, und lauschte dem Klavierspiel von Mihri Chanum, die ihm Wiener Walzer zu Gehör brachte.
    Derweil saß Anwar unentwegt beim Kriegsminister, um den vorsichtigen und vorausschauenden Herrn zu einer Änderung seiner politischen Orientierung zu bewegen. Nach einem Bericht meines Agenten, der dem Minister als Koch diente (daher die spezifische Färbung des Berichts), verliefen die schicksalträchtigen Verhandlungen folgendermaßen. Anwar kam genau zur Mittagsstunde zum Minister, und es wurde befohlen, Kaffee mit Tschureks aufzutragen. Eine Viertelstunde später scholl aus dem Kabinett des Ministers das empörte Gebrüll seiner Exzellenz, und die Adjutanten führten Anwar auf die Hauptwache. Dann wanderte der Minister eine halbe Stunde lang einsam durchs Zimmer und verzehrte zwei Teller Halwa, das er sehr gern aß. Danach wollte er den Verräter persönlich einvernehmen und begab sich auf die Hauptwache. Um halb drei erging Befehl, Obstund Süßigkeiten zu servieren. Um dreiviertel vier wurden Kognak und Champagner verlangt. In der fünften Stunde, nach dem Kaffeetrinken, fuhren der Minister und Anwar zu Midhat. Wie man hört, wurden dem Minister für seine Teilnahme an der Verschwörung der Posten des Großwesirs und eine Million Pfund von den englischen Gönnern versprochen.
    Gegen Abend waren sich die beiden Hauptverschwörer vollkommen einig, und schon in derselben Nacht kam es zu dem Staatsstreich. Die

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