Türkisches Gambit
Flotte blockierte den Palast von der See her, der Chef der hauptstädtischen Garnison besetzte die Wachen mit seinen Leuten, und der Sultan wurde mitsamt seiner Mutter und der schwangeren Mihri Chanum per Boot in den Feriye-Palast überführt.
Vier Tage später stutzte sich der Sultan mit einer Nagelschere den Bart, doch so ungeschickt, daß er sich die Venen beider Handgelenke durchschnitt und sogleich verstarb. Die Ärzte der europäischen Gesandtschaften, hinzugebeten, den Leichnam zu begutachten, erkannten einstimmig auf Selbstmord, da keinerlei Spuren eines Kampfes an dem Körper gefunden wurden. Kurz und gut, alles wurde einfach und elegant durchgespielt wie bei einer guten Schachpartie – so wollte es der Stil von Anwar Effendi.
Aber das war nur die Eröffnung, es folgte das Mittelspiel.
Der Kriegsminister hatte sein Werk getan und wurde nun zu einem ernsthaften Störfaktor, denn für Reformen und für die Verfassung besaß er keinerlei Neigung, er interessierte sich vornehmlich dafür, wann ihm die von Anwar versprochene Million ausgefolgt würde. Überhaupt benahm sich der Kriegsminister so, als wäre er die Hauptperson der Regierung, und wurde nicht müde, daran zu erinnern, daß keineswegs Midhat, sondern er selbst den Sultan Abd ul Asis gestürzt habe.
Eben davon überzeugte Anwar Effendi einen wackeren Offizier, der zuvor dem verblichenen Sultan als Adjutant gedient hatte. Dieser hieß Hassan Bei, war der Bruder der entzückenden Mihri Chanum und genoß bei den Schönen des Hofes eine unwahrscheinliche Popularität, denn er sah sehr gut aus, war tapfer und sang vorzüglich italienische Arien. Alle nannten ihn einfach den Tscherkessen.
Ein paar Tage, nachdem Abd ul Asis sich so ungeschickt den Bart gestutzt hatte, gebar die untröstliche Mihri Chanum ein totes Kind und verstarb unter schrecklichen Qualen. Just zu dieser Zeit wurden Anwar und der Tscherkesse Busenfreunde. Eines Tages kam Hassan Bei in die Residenz Midhat Paschas, um seinen Freund zu besuchen. Anwar war nicht in seinem Zimmer, doch genau zu diesem Zeitpunkt kamen die Minister zu einer Beratung zusammen. An den Tscherkessen waren sie hier gewöhnt, sahen in ihm einen der Ihren. Er trank Kaffee mit den Adjutanten, rauchte, schwatzte über alles mögliche. Dann schlenderte er durch die Korridore, doch plötzlich stürmte er in den Saal, wo die Sitzung stattfand. Midhat und die übrigen Würdenträger rührte er nicht an, aber dem Kriegsminister schoß er mit seinem Revolver zwei Kugeln in die Brust und gab dem alten Mann mit dem Jatagan den Rest. Diejenigen Minister, die bei klugem Verstand waren, stürzten fluchtartig davon, doch zwei gedachten den Helden zu spielen. Gänzlich sinnlos. Den einen erschoß der rasende Tscherkesse aus nächster Nähe, den anderen verwundete er schwer. Da kehrte der kühne Midhat Pascha mit seinen beiden Adjutanten zurück. Hassan Bei tötete sie beide, doch Midhat rührte er wieder nicht an. Der Mörder wurde schließlich in Fesseln geschlagen, doch zuvor hatte er noch einen Polizeioffizier umgebracht und sieben Soldaten verwundet. Unser Anwar betetederweil fromm in der Moschee, und dafür gab es eine Menge Zeugen.
Die Nacht verbrachte Hassan Bei hinter Schloß und Riegel in einem Wachraum und sang mit lauter Stimme Arien aus ›Lucia di Lammermoor‹. Wie es heißt, war Anwar Effendi davon so entzückt, daß er versuchte, den heldenmütigen Übeltäter zu begnadigen, aber die erbitterten Minister waren unbeugsam, und der Mörder wurde am Morgen darauf an einem Baum aufgeknüpft. Die Haremsdamen, die ihren Tscherkessen so heiß geliebt hatten, kamen nun, um seiner Hinrichtung beizuwohnen, sie weinten bitterlich und warfen ihm Kußhändchen zu.
Jetzt gab es niemanden mehr, der Midhat störte, mit Ausnahme des Schicksals, das ihm einen Schlag von gänzlich unerwarteter Seite zufügte. Den großen Politiker legte seine Marionette herein, der neue Sultan Murad.
Schon am Morgen des 31. Mai, gleich nach dem Umsturz, stattete Midhat Pascha dem Neffen des gestürzten Sultans, dem Prinzen Murad, eine Visite ab, welche diesen höchlich erschreckte. An dieser Stelle ist eine kleine Abschweifung angebracht, um zu erklären, wie jämmerlich es im Osmanischen Reich um die Figur des Thronfolgers bestellt ist.
Der Prophet Mohammed nämlich hatte trotz seiner fünfzehn Ehefrauen keinen einzigen Sohn gezeugt, und er hatte keine Instruktionen zur Frage der Thronfolge hinterlassen. Darum hat in all den Jahrhunderten jede
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