Türkisches Gambit
Toten zuviel Ehre an, Warwara Andrejewna. Es ist viel einfacher. Wenn das Gleichungen sind, dann sehr anspruchslose. Freilich mit einer Unbekannten.«
»Nur mit einer?« sagte Warja verdutzt.
»Schauen Sie genauer hin. Die erste K-kolonne besteht nur aus Zahlen. Lucan macht dahinter ein Gleichheitszeichen. Neunzehnter bis neunundzwanzigster Juli nach westlichem Stil. Was hat der Oberst an diesen Tagen gemacht?«
»Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn nicht beschattet.« Warja überlegte. »Na, im Stab wird er gewesen sein, ist zu den Stellungen geritten.«
»Ich habe den O-oberst kein einziges Mal zu den Stellungen reiten sehen. Eigentlich habe ich ihn immer nur an einem Ort gesehen.«
»Im Klub?«
»Genau. Und was hat er da gemacht?«
»Nichts. Karten gespielt.«
»B-bravo, Warwara Andrejewna.«
Sie blickte noch einmal auf das Blatt.
»Also hat er die Spielergebnisse notiert! Nach dem S ein Minus, nach dem J immer ein Plus. Mit dem S bezeichnet er Verluste, mit dem J Gewinne. Das soll alles sein?« Warja zuckte enttäuscht die Achseln. »Wo ist da die Spionage?«
»Es gab keine. Spionage ist eine hohe Kunst, doch hier haben wir es mit primitiver B-bestechung und Verrat zu tun. Am 19. Juli, dem Tag vor dem ersten Angriff auf Plewna,erschien im Klub der Raufbold Surow, und Lucan vertiefte sich ins Spiel.«
»Also ist S gleich Surow?« rief Warja. »Warten Sie …« Sie blickte auf die Ziffern und flüsterte: »Neunundvierzig … sieben im Sinn … Hundertvier …« Sie addierte. »Insgesamt hat er 15800 an Surow verloren. Das scheint zu stimmen, Surow hat auch von fünfzehntausend gesprochen. Aber was bedeutet das i?«
»Ich v-vermute, das ist der berüchtigte Ring, auf rumänisch inel. Am 20. Juli hat Lucan ihn verspielt, am 29. zurückgewonnen.«
»Aber wer ist J?« Warja rieb sich die Stirn. »Unter den Spielern war doch wohl keiner, der mit J anfängt. Von dem hat Lucan gewonnen … hm … Oho! Fünfunddreißigtausend! An so große Gewinne kann ich mich nicht erinnern. Damit hätte er auch bestimmt geprahlt.«
»Es gab nichts zum Prahlen. Das ist kein Gewinn, sondern das Honorar für Verrat. Zum erstenmal hat der geheimnisvolle J dem Oberst am 21. Juli Geld gegeben, nachdem der gegen Surow mit Pauken und Trompeten verloren hatte. Des weiteren bekam der Verstorbene von seinem unbekannten Gönner je f-fünftausend am 23., am 25. und am 27., das heißt, jeden zweiten Tag. Dadurch konnte er weiter gegen Surow spielen. Am 29. erhielt Lucan mit einem Schlag fünfzehntausend. Fragt sich, warum so v-viel und warum gerade am 29.?«
»Er hat die Disposition vom zweiten Angriff auf Plewna verraten!« flüsterte Warja. »Der verhängnisvolle Sturmangriff war am 30. Juli, am nächsten Tag!«
»Nochmals bravo. Da haben Sie das Geheimnis von Lucans Scharfsicht und von der Treffgenauigkeit der türkischen Artilleristen, die unsre Kolonnen schon auf dem Anmarsch zusammenschossen.«
»Aber wer ist J? Haben Sie denn niemanden im Verdacht?«
»Doch doch«, brummte Fandorin kaum verständlich. »Aber noch fügt sich nicht alles zusammen.«
»Also müssen wir nur noch diesen J finden, dann kommt Petja frei, Plewna wird genommen, und der Krieg ist zu Ende?«
Fandorin überlegte, zog die glatte Stirn in Falten und antwortete ernsthaft: »Ihre logische Kette ist nicht ganz k-korrekt, aber im Prinzip richtig.«
In den Presseklub traute sich Warja an diesem Abend nicht. Sicherlich würden ihr alle die Schuld an Lucans Tod geben (sie wußten ja nichts von dem Verrat) und an der Ausweisung des allgemein beliebten d’Hévrais. Der Franzose war nicht aus Bukarest ins Lager zurückgekehrt. Fandorin wußte zu erzählen, daß der Duellant in Arrest genommen und aufgefordert worden war, das Gebiet des rumänischen Fürstentums binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen.
In der Hoffnung, Surow oder wenigstens MacLaughlin zu treffen und von ihnen zu erfahren, wie streng die öffentliche Meinung mit ihr, der Verbrecherin, ins Gericht ging, spazierte die arme Warja in hundert Schritten Abstand um das Zelt herum, das mit bunten Fähnchen geschmückt war. In ihr Zelt zurückzukehren hatte sie absolut keine Lust. Die Krankenschwestern, herzensgute, doch unbedarfte Geschöpfe, würden doch nur wieder erörtern, wer von den Ärzten ein feiner Kerl und wer ein Schuft sei und ob der einarmige Oberleutnant Strumpf aus Zelt sechzehn es ernst gemeint habe, als er Nastja Prjanischnikowa einen Heiratsantrag machte.
Der Zeltvorhang
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