Türkisches Gambit
Augen hatten einen besonderen Glanz.
»Wozu darf ich gratulieren, Michail Dmitrijewitsch?« fragte ein General von kaukasischem Aussehen, er trug einen Tscherkessenrock mit vergoldeten Patronentaschen.
Alle hielten den Atem an, doch Sobolew hatte es nicht eilig mit der Antwort, er machte eine effektvolle Pause, blickte von einem zum anderen, zwinkerte Warja fröhlich zu.
Aber sie erfuhr nicht, womit der Imperator den Helden von Plewna beschenkt hatte, denn hinter dem Olympier zeigte sich die banale Physiognomie von Lawrenti Misinow. Der oberste Gendarm des Imperiums winkte Fandorin und Warja mit dem Finger zu sich. Das Herz pochte wie verrückt.
Als Warja an Sobolew vorbeiging, flüsterte er:
»Warwara Andrejewna, ich warte auf Sie.«
Von der Diele gelangten sie unmittelbar in das Adjutantenzimmer, wo an Schreibtischen der diensthabende General und zwei Offiziere saßen. Rechts lagen die Privaträume des Imperators, links war das Arbeitszimmer.
»Auf Fragen ist laut, deutlich und erschöpfend zu antworten«, instruierte Misinow sie im Gehen. »Ausführlich, aber ohne abzuschweifen.«
In dem schlichten Kabinett, das mit Möbeln aus karelischer Birke eingerichtet war, befanden sich zwei Männer: Der eine saß in einem Sessel, der andere stand mit demRücken zum Fenster. Warja warf natürlich den ersten Blick auf den Sitzenden, aber das war nicht Alexander, sondern ein mageres Männlein mit Goldrandbrille, einem klugen dünnlippigen Gesicht und eisigen Augen, die keinen Blick nach innen ließen – der Staatskanzler Fürst Kortschakow in eigener Person, und er sah genauso aus wie auf den Porträts, nur etwas subtiler. Eine in gewisser Hinsicht legendäre Persönlichkeit. Er war Außenminister gewesen, als Warja noch gar nicht auf der Welt war. Doch die Hauptsache – er hatte zusammen mit Puschkin das Lyzeum von Zarskoje Selo besucht. Über ihn stand geschrieben: »Der Mode Zögling, Freund der großen Welt, der Sitten glänzender Beobachter.« Jedoch mit seinen achtzig ließ »der Mode Zögling« eher an ein anderes Gedicht denken, das im Lehrplan der Gymnasien stand:
Wer von euch muß auf seine alten Tage
den Tag der Schule feiern ganz allein?
Der Unglückliche! Unter jungen Leuten
wird er dann lästig, überflüssig sein,
gedenkt noch unser und der schönen Zeiten,
hält vor die Augen zitternd seine Hand…
Die Hand des Kanzlers zitterte wirklich. Er holte ein Batisttüchlein aus der Tasche und schneuzte sich, was ihn jedoch nicht hinderte, aufs zudringlichste zuerst Warja zu mustern und dann Fandorin, auf dem er den Blick besonders lange verharren ließ.
Warja, die vom Anblick des Lyzeumsschülers von Zarskoje Selo ganz verzaubert war, hatte die wichtigste anwesende Person ganz vergessen. Verlegen wandte sie sich nach dem Fenster um, überlegte ein wenig und machte einen Knicks – wie im Gymnasium, wenn die Direktorin die Klasse betrat.
Der Imperator bekundete, anders als Kortschakow, mehrInteresse für sie als für Fandorin. Die berühmten Romanow-Augen – durchdringend, magnetisierend und vorstehend – blickten streng und fordernd. Sie dringen einem bis in die Seele, so nennt man das, dachte Warja und war ein wenig erbost. Sklavenpsychologie und Vorurteile. Er imitiert einfach den »Basiliskenblick«, auf den sein Papa so stolz war, im Grabe soll er sich umdrehen. Und sie musterte nun auch demonstrativ den Mann, nach dessen Willen das ganze Reich mit seinen achtzig Millionen Untertanen lebte.
Erste Beobachtung: ein Greis! Geschwollene Lider, Backenbart und aufgezwirbelter Schnauz stark angegraut, die Finger knotig, podagrisch. Stimmt ja auch – nächstes Jahr wird er sechzig. Fast so alt wie die Großmutter.
Zweite Beobachtung: nicht so gütig, wie die Zeitungen schreiben. Eher gleichgültig, müde. Er hat schon alles auf der Welt gesehen, wundert und freut sich über nichts mehr so richtig.
Dritte Beobachtung, die interessanteste: Trotz seines Alters und seiner kaiserlichen Würde ist er dem weiblichen Geschlecht gegenüber nicht gleichgültig. Warum sonst, Euer Majestät, lassen Sie den Blick über meine Brust und Taille streichen? Wahrscheinlich stimmt es, was über ihn und die halb so alte Fürstin Dolgorukowa geredet wird. Und Warja verlor nun endgültig die Scheu vor dem Befreierzaren.
»Euer Majestät, das ist der besagte Titularrat Fandorin. Und seine Assistentin, Fräulein Suworowa.« So stellte der Chef der Gendarmerie sie vor.
Der Zar sagte nicht »guten Tag«, nickte nicht
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